Das Pesttuch
hoffte, rasch bei der A r beit zu sein, damit er nicht beim Aufstehen unter der leeren Stille dieses großen Hauses leiden müsste. Stattdessen stand er bereits auf dem Gartenweg, nahe bei einer Stelle, wo Elinor gerne Blumen geschnitten hatte. Wie lange er sich dort schon aufgehalten hatte, weiß ich nicht, aber als ich später frische Tücher in sein Zimmer brachte, entdeckte ich, dass sein Bett unberührt war.
Als ich über den Weg auf ihn zuging, regte er sich nicht, hob nicht den Blick, und grüßte mich auch nicht. Da ich mich nicht an ihm vorbeidrücken kon n te, blieb auch ich dort stehen und betrachtete mit ihm die üppigen Spätsommerrosen, die in leuchtenden Kaskaden über die alte Steinmauer fielen.
»Diese hat sie ganz besonders geliebt«, sagte ich kaum hörbar. »Manchmal bildete ich mir ein, dies sei deshalb so, weil sie ihrem Äußeren glichen: ganz cremeweiß, mit einem Hauch von Rose.«
Jetzt drehte er sich abrupt zu mir und brachte seine Hand so rasch in die Nähe meines Gesichts, dass mich der Instinkt eines im Übermaß geschlagenen Kindes zusammenzucken ließ. Aber natürlich wollte er mich nicht schlagen, sondern nur zum Schweigen bringen. Dicht vor meinen Lippen verharrten seine Finger in der Luft. »Sag nichts, ich flehe dich an«, flüsterte er mit rauer Stimme. Dann drehte er sich um und ging langsam ins Haus.
Am nächsten Tag lief es ähnlich ab. Als ich zur Arbeit kam, fand ich ihn nicht in seinem Zimmer. Wieder deutete nichts darauf hin, dass hier jemand geschlafen hatte. Ich suchte nach ihm in der Bibli o thek und im Salon und schließlich im Stall. Hoffen t lich war er ausgeritten, was Reiter und Pferd gut täte. Aber Anteros war da und stampfte ungeduldig in se i nem ungewohnten Gefängnis herum. Er habe den Herrn Pfarrer nicht zu Gesicht bekommen, erzählte mir der Stallbursche.
Erst im Laufe des Vormittags fand ich ihn. Die s mal stand er starr und stumm in Elinors Schlafzi m mer und schaute unverwandt auf die Stelle, wo ihr Kopf gelegen hatte, als könnte er d ort noch immer einen leichten Abdruck der Umrisse erkennen. Als ich die Türe öffnete, rührte er sich nicht. Seine Beine zitterten leicht, vielleicht auf Grund der Anstre n gung, die ein langes regloses Stehen an einem Platz verursacht. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen. Wortlos trat ich neben ihn, nahm seinen Ellbogen und führte ihn mit leichtem Nachdruck vom Bett weg und wieder in sein eigenes Zimmer. Er wehrte sich nicht, sondern ließ sich von mir führen wie ein Kind. Mit einem tiefen Seufzer sank er in seinen Sessel. Ich holte einen Krug mit dampfend heißem Wasser und wusch sein Gesicht. Seine Bartstoppeln kratzten über den Lappen. Urplötzlich waren wieder glasklare E r innerungen an Sam Frith wach: Wie ich ihn geneckt hatte, wenn er nach langen Tagen unter der Erde u n rasiert heimkam, wie ich bei seinen Küssen den Kopf wegdrehte, bis er sich von mir mit einer Klinge glatt rasieren hatte lassen, die er nur zu diesem Zweck ständig ganz scharf hielt.
Seit dem Tag, als Elinor starb, hatte sich der Herr Pfarrer nicht mehr rasiert. Zögernd erkundigte ich mich, ob ich das für ihn tun solle. Er schloss die A u gen und gab keine Antwort. Also holte ich die no t wendigen Dinge und machte mich an die Arbeit. Was für ein Gesicht, so grundverschieden von dem von Sam. Mein Mann hatte ein Gesicht, das so offen und leer war wie ein unbeackertes Feld. Das vor E r schöpfung und Kummer verhärmte Gesicht des Herrn Pfarrers bestand nur aus Erhebungen und Fu r chen. Ich stand hinter seinem Sessel, beugte mich über ihn und trug sachte mit den Fingern den Rasie r schaum auf seine Haut auf. Anschließend putzte ich mir sorgfältig die Hände ab und nahm die Klinge zur Hand. Um die Haut zu straffen, legte ich ihm meine Linke auf den Rand der Wange. Zwischen unseren Gesichtern lagen höchstens ein paar Zoll. Während meiner Arbeit löste sich eine lange Haarsträhne, fiel aus meiner Haube und streifte seitlich seinen Hals. Er schlug die Augen auf und erwiderte meinen tiefen Blick. Ich fuhr zurück. Die Klinge glitt mir aus der Hand und fiel klappernd in die Schüssel. Unvers e hens spürte ich, wie ich rot wurde. Meine Haut pr i ckelte. Eines wusste ich: So konnte ich unmöglich weitermachen. Ich gab ihm die Klinge und brachte einen Spiegel, damit er sich fertig rasieren konnte. Anschließend entfernte ich mich mit den Worten, ich würde einen Teller Brühe holen, rückwärts aus dem Zimmer. Erst nach geraumer Zeit
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