Das Pesttuch
Aphra in einem neuen Anfall wilden Wahns au s teilte. Eines weiß ich: Die Tat dauerte lediglich einen Augenblick. Einen Augenblick, um z wei Leben zu nehmen und ein weiteres zerstört zurückzulassen.
Die Wunde an Elinors Hals glich einer flachen Kurve. Eine Sekunde lang war sie nur ein schmaler roter Strich, der sich wie ein Lächeln nach oben zog. Dann aber spritzte in einem grellroten Schwall Blut hervor und färbte ihr weißes Kleid mit roten Streifen. Sie sackte zu Boden. Die verstreuten Blumen aus ihren Armen empfingen sie wie eine Bahre.
Aphra hatte das Messer gegen sich selbst gewe n det und es sich bis zum Heft tief in die Brust gest o ßen. Und doch stand sie noch immer aufrecht, wenn auch schwankend. Die unheimliche Kraft der Wahnsinnigen hielt sie auf den Beinen. Sie schleppte sich zu der Stelle, wo der Schädel ihres Kindes lag. Dann brach sie in die Knie, griff nach unten, barg ihn mit äußerster Zärtlichkeit in beiden Händen und drückte ihn an ihre Lippen.
HERBSTZEIT
Anno 1666
Apfelernte
Sie begruben Faith im Garten bei meines Vaters Hü t te, neben der Stelle, wo ihre Brüder lagen. Flehen t lich bat ich sie, auch Aphra dort zu begraben, aber die Männer schauten mir weder in die Augen, noch erhörten sie meine Bitte. Keiner wollte ihren Körper innerhalb des Dorfgeländes liegen haben. Schließlich kam mir der junge Brand zu Hilfe. G e meinsam schafften wir ihren Leichnam aufs Moor hinauf, wo Brand ihr unter großen Mühen in der fe l sigen Erde neben dem Grabhügel meines Vaters ein Grab scha u felte.
Elinor beerdigten wir auf dem Kirchhof. Da die Pest vorüber war, sprach nichts mehr dagegen. Der junge Micha Milne, der Sohn unseres toten Stei n metzes, gravierte den Stein so gut er konnte. Aber der Junge war gerade erst Lehrling gewesen, als die Pest seinen Vater fortriss, und hatte wenig Erfa h rung. Ich musste ihm zeigen, wo er zwei Buchstaben in Elinors Namen falsch gesetzt hatte. Er meißelte die Irrtümer heraus und flickte die Inschrift, so gut es ging.
Am Grab betete Mister Stanley. Michael Mompe l lion war dazu nicht im Stande. Im Kampf gegen jene, die ihn schließlich von Elinors Leichnam im Stei n bruch fortbringen wollten, hatte sich seine letzte Kraft erschöpft. Bis zum Anbruch der Nacht hatte er sich an sie geklammert. Kein gutes Wort ließ ihn von der Stelle weichen. Schließlich war es der alte Pfa r rer, der den Männern befahl, ihn mit Gewalt zu en t fernen, damit man sich mit Anstand um Elinors Kö r per kümmern konnte.
Dies tat ich. Und danach diente ich ihr weiter möglichst gut, i ndem ich ihre Wünsche erfüllte, die sie auf ihrem Krankenlager genannt hatte, als wir alle gedacht hatten, sie hätte die Pest. Sei meinem Mich a el eine Freundin, hatte sie gesagt. Wie hatte sie sich das vorgestellt? Würde er mich das je sein lassen? Stattdessen tat ich alles, was in meiner Macht lag. Ich diente ihm. Die meiste Zeit hätte ich auch ein Schatten sein können, so wenig nahm er mich wahr. Noch im Augenblick von Elinors Tod schien er sich auf eine Reise begeben zu haben, die ihn täglich we i ter weg führte, immer auf der Suche nach einer Z u flucht in den Tiefen seines Geistes.
Wenigstens ermöglichte es mir die Sorge für den trauernden Mister Mompellion, mit meiner eigenen Trauer fertig zu werden. Täglich ging ich Wege, die Elinor gegangen war, und stellte mir vor, was sie tun oder sagen würde. Diese Übung brachte mir ein g e wisses Maß an innerem Frieden. Zumindest befreite sie meinen Kopf von der Last eigener Gedanken. S o lange ich meine Tage mit dem Nachahmen von El i nor füllen konnte, musste ich mich weder intensiver mit meinem eigenen Zustand beschäftigen noch mit meiner trostlosen Zukunft.
Am Tag nach ihrem Tode verließ er das Pfarrhaus. Ich folgte ihm aus Angst, er wolle sich in seinem düsteren Zustand vom Edge stürzen. Stattdessen ging er ins Moor oberhalb von Mompellions Well, wo ihn bereits sein Freund Mister Holbroke erwartete. Keine Ahnung, wie sie dies zuvor abgesprochen ha t ten. Dort diktierte er seine letzten Briefe aus dem Pes t jahr. Im ersten teilte er dem Grafen mit, dass die Pe s tilenz seiner Ansicht nach endlich geflohen sei, und bat darum, die Straßen ins Dorf wieder zu öf f nen. Der zweite war an Elinors Vater gerichtet, in dem er ihm ihren Tod meldete. Danach begab er sich wieder ins Pfarrhaus, das er seitdem nicht mehr ve r lassen hat.
Am zweiten Morgen kam ich kurz nach Sonne n aufgang ins Pfarrhaus. Ich
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