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Das Pesttuch

Das Pesttuch

Titel: Das Pesttuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: brooks
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Nein, von Jubel konnte keine Rede sein. Dazu gab es viel zu viele Verluste, zu tief war unser Inneres verletzt. Denn für jeden von uns, der immer noch auf Erden wandelte, lagen zwei darunter. Bei jedem Schritt kamen wir an den notdürftigen Gräbern unserer Freunde und Nachbarn vorüber. Obendrein waren wir alle völlig erschöpft. Hatte doch jeder Lebende im Laufe des Jahres die Pflichten und Aufgaben von zwei oder sogar drei Toten übe r nommen. An manchen Tagen kostete uns sogar das Nachdenken Mühe.
    Trotzdem soll das nicht heißen, dass es nicht auch dem Bedrücktesten ein wenig leichter ums Herz wurde, als es einem nach dem anderen dämmerte, dass unsere Verluste endlich zum Stillstand geko m men und wir selbst verschont geblieben waren. Denn das Leben ist eben doch nicht nichts, nicht einmal für den Trauernden. Gewiss wurde das Menscheng e schlecht so geschaffen. Wie sollten wir sonst we i termachen?
     
    Im Pfarrhaus kam es zwischen Michael Mompell i on und Elinor zu einer Meinungsverschiedenheit, der ersten, die mir je aufgefallen war. Sie vertrat die A n sicht, er solle einen Dankgottesdienst für unsere E r lösung halten, während er dagegenhielt, dafür sei die Zeit noch nicht reif. Eine vorzeitige Ansprache, das öffentliche Eingeständnis dessen, woran wir alle i n zwischen in unserem Innersten glaubten, berge e r heblich mehr Risiko als Nutzen.
    »Welche Wirkung hätte es, wenn ich mich irrte?«, hörte ich ihn zu ihr sagen, während ich im Flur am Salon vorbeiging.
    Etwas an seinem Tonfall erregte meine Aufmer k samkeit, sodass ich stehen blieb und lauschte, o b wohl ich wusste, dass ich das nicht tun sollte.
    »Wenn wir hier überhaupt etwas erreicht haben, dann das: Wir haben diese Qual auf unser Gebiet b e grenzt. In ganz Derbyshire gibt es keinen Fall von Pest, der sich auf unser Dorf zurückführen lässt. W a rum also unsere Opfer für ein oder zwei hastig vo r gezogene Wochen riskieren?«
    »Aber, mein Liebster«, erwiderte Elinor mit san f ter und doch nachdrücklicher Stimme, »hier gibt es Menschen – zum Beispiel die Witwen Hancock und Hadfield und Waisen wie Merry Wickford und Jane Martin und noch viele mehr –, die jedem Mitglied ihrer Familien ins Grab nachschauen mussten. Sie haben genug gelitten. Warum musst du dieses Leid verlängern, wenn du, wie ich weiß, glaubst, dass die Pest vorbei ist? Sie sollten keinen Tag länger als n ö tig hier in ihrer Einsamkeit verweilen. Es sollte ihnen freistehen, zu ihren Verwandten zu gehen oder sich von ihnen hier besuchen zu lassen, damit sie vie l leicht allmählich ein Mindestmaß an Liebe und Trost und neuem Leben finden können.«
    »Glaubst du nicht, dass ich an sie denke? Ich, der in diesen vielen erbärmlichen Monaten an nichts a n deres gedacht hat?« Bei diesem letzten Satz hatte seine Stimme eine bittere Schärfe, die ich noch nie bei einem Gespräch zwischen ihnen vernommen ha t te. »Die Verzweiflung ist eine Höhle unter unseren Füßen, auf deren schmalem Rand wir balancieren. Gesetzt den Fall, ich irre mich, und die Pest ist i m mer noch bei uns. Möchtest du, dass ich diese Leute in hoffnungslose Untiefen stürze, aus denen ich sie nie und nimmer herausholen kann?«
    Ich hörte ihr Kleid rascheln, als sie sich umdrehte und zur Türe ging. »Wie du es für richtig hältst, mein Gemahl. Trotzdem flehe ich dich an, lass diese Me n schen nicht ewig warten. Nicht jeder besitzt so viel unbeugsame Entschlossenheit wie du.«
    Als sie aus dem Zimmer kam, zog ich mich schnell in die Bibliothek zurück. Sie sah mich nicht, als sie vorbeieilte, aber ich sah sie: Ihr hübsches G e sicht war ganz verzerrt. Nur mühsam konnte sie die Tränen zurückhalten.
     
    Keine Ahnung, wie es schließlich zur Entsche i dung gekommen war. Nur wenige Tage nachdem ich diese Unterhaltung belauscht hatte, flüsterte mir El i nor zu, der Herr Pfarrer habe sich für den zweiten Sonntag im August entschieden. Auch ohne offizielle Ankü n digung sprach sich das irgendwie rasch im ganzen Dorf herum. Als der festgesetzte Tag endlich kam, versammelten wir uns unter dem Licht - und Scha t tenspiel des Steinbruchs und hofften instä n digst, es wäre das letzte Mal. Ohne Scheu traten die Leute n ä her, schüttelten einander die Hand und pla u derten unbeschwert, während sie auf den Herrn Pfarrer wa r teten.
    Endlich kam er, bekleidet mit einem weißen Cho r hemd, dessen Ränder mit feinster Spitze verziert w a ren, die an Schaum erinnerte. So etwas hatte er noch

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