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Das Pesttuch

Das Pesttuch

Titel: Das Pesttuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: brooks
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hatte ich mich so weit gefasst, dass ich sie ihm bringen konnte.
    Danach hörte jeder Rundgang durchs Haus auf. Tag und Nacht blieb er nur noch auf seinem Zimmer. Am Ende der ersten Woche holte ich Mister Stanley in der Hoffnung, das brächte etwas Gutes. Äußerst erregt verließ der alte Mann das Zimmer des Herrn Pfarrers. Als ich ihm seinen Hut brachte, schien er heftig mit sich zu ringen. Schließlich wandte er sich mir zu und begann, sich vorsichtig nach dem geist i gen Zustand des Herrn Pfarrers zu erkundigen.
    Dies stürzte mich in Verwirrung. Nicht weil ich meine eigene Meinung für wertlos hielt, wie es fr ü her der Fall gewesen wäre, sondern weil ich fand, es stünde mir nicht zu, über Mister Mompellions Ve r halten zu sprechen. Nicht einmal mit Mister Stanley, der es gut damit meinte.
    »Das kann ich sicherlich nicht beurteilen, Sir.«
    Daraufhin murmelte der alte Mann etwas vor sich hin, was mehr für seine Ohren gedacht war als für meine: »Meiner Ansicht nach hat ihn der Kummer ruiniert, jawohl, sogar ziemlich ruiniert. Vermutlich hat er nichts von all meinen Worten begriffen. W a rum würde er sonst meinen Rat verlachen, er solle sich in Gottes Willen schicken?«
    Mister Stanley war so besorgt, dass er sowohl am nächsten Tag wie am übernächsten wiederkam, aber Mister Mompellion verbat es, dass ich ihn einließ. Als er ein drittes Mal kam, ging ich nach oben, um den Herrn Pfarrer davon zu benachrichtigen. Ver d rossen vertieften sich seine Mundfalten. Widerwillig erhob er sich aus seinem Sessel und lief im Zimmer auf und ab.
    »Ich hätte gerne, dass du Mister Stanley etwas ausrichtest, falls du dazu im Stande bist. Bitte, Anna, wiederhole diesen Satz: Falsus in uno, falsus in o m nibus. «
    Ich wiederholte den lateinischen Satz. Dabei fiel mir plötzlich auf, dass ich ihn sinngemäß verstehen konnte. Noch ehe ich meine Zunge bremsen konnte, platzte ich laut heraus: »Falsch in einer Sache, falsch in allen.«
    Mister Mompellion fuhr abrupt herum und zog die Augenbrauen hoch. »Um alles in der Welt, wie kannst du das wissen?«
    »Halten zu Gnaden, Herr Pfarrer, ich habe ein bis s chen Latein aufgeschnappt, ein ganz klein bis s chen, während wir uns im letzten Jahr hier so ins Le r nen vertieft hatten … Sehen Sie, die Medizinb ü cher sind meistens auf Lateinisch, und wir, das heißt …«
    Jetzt unterbrach er mich. Er wollte nicht, dass ich ihren Namen aussprach. »Ich verstehe, ich verstehe. Dann kannst du es ja Mister Stanley ausrichten und ihn bitten, er möchte doch so freundlich sein, mich nicht mehr zu besuchen.«
    Die Bedeutung von Wörtern kennen ist eine S a che, ihren Sinn zu verstehen etwas ganz anderes. Ich hatte keine Ahnung, was Mister Mompellion dem alten Mann zu übermitteln versuchte. Aber als ich die Botschaft ausrichtete, wurde Mister Stanleys Miene streng. Er ging auf der Stelle und kam nicht wieder.
     
    Neben meiner Arbeit im Pfarrhaus hatte ich viel zu tun. Immer öfter wandten sich die Dorfbewohner wegen Tränklein und kleinen Heilmitteln an mich. Dafür musste ich den Garten der Gowdies pflegen, wo ich in jeder freien Minute die Sommerkräuter schnitt und zum Trocknen aufhängte. Hatte m ich das Schicksal zur nächsten in jener langen Reihe von Frauen bestimmt, von denen Anys einmal gespr o chen hatte? Frauen, die sich um diese Pflanzen kümmerten und ihre Heilkräfte kannten. Der Geda n ke bedrückte mich. Ich wies ihn von mir. Für mich würde der Gowdie-Garten nie wieder ein Ort der R u he sein. Dazu gab es hier zu viele Erinnerungen: an Elinor , wie sie über einer Hand voll Wurzeln rätselte und sich mit fragenden Augenbrauen an mich wan d te; an die alte Mem, wie sie mit kundiger Hand frisch gepflückte Kräuterbüschel mit einer Schnur zusa m menband; und an Anys, die meine Freundin hätte sein sollen … An und für sich waren diese Erinn e rungen nichts Schlechtes, allerdings stiegen auch noch andere in mir hoch: das gurgelnde Rasseln der sterbenden Mem; das betrunkene Gebell, mit dem die Mörder an dem Seil zerrten, das Anys umbrachte; Elinors starrer blasser Körper unter meinen Händen, kalt. In meiner Vorstellung sollten sich im Kopf e i ner Heilerin nicht so viele Bilder von Toten ansa m meln. Und doch kann man einige Erinnerungen nicht wie Unkraut ausreißen, wie sehr man sich auch dazu zwingen mag.
    Das Dorf selbst wirkte noch immer wie gelähmt. Mit der Öffnung der Straßen sprang das Leben nicht urplötzlich wieder an. Zwar flohen einige von hier, so

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