Das Pesttuch
Rosa, das den leicht glühenden Wangen von Ahmed Beys Enkelkindern gleicht, wenn sie im Frauenhof herumrennen und -toben.
Hier gibt es jede Farbe in Hülle und Fülle, nur kein Grün. Gras gibt es nicht, und die Palmwedel sind mit einer feinen Staubschicht bedeckt, die alles mit einem staubiggelben Mantel umhüllt. Wah r scheinlich ist es das Grün, das ich vielleicht am mei s ten vermisse. Eines Tages entdeckte ich in Ahmed Beys Bibliothek ein großes Buch mit einem fein g e gerbten Ledereinband, der genau in der Farbe unserer heimischen Sommerwiesen eingefärbt war. Dieses Buch nahm ich mit in mein Zimmer und legte es so auf den Tisch, dass meine Augen darauf Ruhe fa n den. Ich hatte keine Ahnung, dass es sich um das Heilige Buch des Beys handelte, das Ungläubige nicht berühren dürfen. Es war das einzige Mal in drei Jahren, dass er mich scharf tadelte. Nachdem ich es ihm erklärt hatte, entschuldigte er sich und schickte mir einen Seidenteppich, der über und über mit j e nem großen Baum verziert war, den die Araber Anisa nennen, Baum des Lebens. Seine verästelten Blätter und Zweige schimmern grüner als alles, was Elinor in jenem wunderschönen Garten unserer Vergange n heit pflanzen konnte.
Wie meine Augen, so mussten auch meine Ohren die andersartige Lebensweise dieses Ortes lernen. Statt meiner früheren Furcht vor der Stille habe ich gelernt, mich nach ihr zu sehnen. Denn hier herrscht Tag und Nacht Lärm. Die Straßen wimmeln von Menschen, unaufhörlich ertönt das Geschrei der Hausierer. Jetzt, bei Sonnenuntergang, hört man von minderten von hohen Minaretten die eindringlich-beschwörenden Rufe der Muezzins. In der Stunde nach dem Abendgebet gehe ich am liebsten in der Stadt spazieren, denn dann wird die Luft langsam kühler, und alles verläuft weniger hektisch. Inzw i schen kennen mich viele Frauen und grüßen mich, wenn ich durch die Straßen gehe. Sie kennen mich unter dem Namen meines Erstgeborenen, wie es bei ihnen so Sitte ist. Deshalb heiße ich hier nicht mehr Anna Frith, sondern Umm Jam-ee – Mutter von J a mie. So bleibt mein kleiner Junge in Erinnerung, und das gefällt mir.
Ich brauchte lange, um einen Namen für das Bra d ford-Mädchen zu finden. Vermutlich hatte ich ihr wä h rend jener schrecklichen Seereise deshalb keinen Namen gegeben, weil ich überzeugt war, wir würden nicht überleben. Als wir hierher kamen, schlug A h med Bey Aisha vor, sein Wort für »Leben«. Später erfuhr ich, dass die Frauen auf dem Markt damit auch »Brot« bezeichnen. Ein passender Name, denn sie hat mich aufrechterhalten.
Jetzt erwartet sie mich im Frauenhof. Sie schleift ihren weißen Haik durch den Staub, als sie auf mich zuspringt, schnurstracks durch den kleinen Garten, wo Maryam, Ahmed Beys älteste Frau, Pflanzen zum Parfümieren ihres Tees kultiviert. Plötzlich duftet es ganz intensiv nach zerdrückter Minze und Zitrone n thymian. Obwohl Maryam einen ganzen Schwall von Scheltworten loslässt, verraten die Fältchen in ihrem tätowierten Gesicht leise Belustigung. Ich lächle der alten Frau zu und grüße sie mit Salam, ehe ich nach meinem eigenen Schleier greife, der an einem Haken neben der Tür zur Straße stets bereithängt.
Dann schaue ich mich nach der anderen um. Sie versteckt sich hinter dem blau gefliesten Brunnen. Mit einer Neigung ihres Kopfes weist mich Maryam darauf hin. Ich tue so, als hätte ich sie nicht gesehen, und spaziere direkt an ihr vorbei, wobei ich ihren Namen rufe. Dann drehe ich mich blitzschnell um und reiße sie in meine Arme. Sie gluckst vor Begei s terung. Ihre weichen Händchen tätscheln meine Wangen, während sie mir feuchte Küsse gibt.
Hier habe ich sie geboren, im Harem. Ahmed Bey half bei ihrer Entbindung. Für ihren Namen brauchte ich seine Unterstützung nicht. Als ich ihr den kleinen Haik über den Kopf werfe, zieht sie ihn so gekonnt zurecht, dass ich nur noch ihre großen grauen Augen sehen kann. Sie hat die Augen ihres Vaters.
Wir winken Maryam zum Abschied zu und schi e ben die schwere Teakholztüre auf. Die warme Luft packt unsere Schleier und bläht sie hinter uns auf. Aisha ergreift eine Hand, Elinor umklammert die a n dere, und dann stürzen wir uns gemeinsam ins dichte Gewühl uns e rer Stadt.
NACHWORT
Dieses Buch entsprang der Phantasie, die sich an der wahren Geschichte der Dorfbewohner von Eyam in Derbyshire entzündet hat.
Meinen ersten Besuch in Eyam im Sommer 1990 verdanke ich reinem Zufall. Damals hatte ich als N a
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