Das Pesttuch
das Mädchen auf diese Weise einige kurze Minuten Geborgenheit kennen lernte. Erst als ich schon auf halbem Weg zu den Stallungen war, merkte ich, dass mir durch und durch kalt war. Außer dem dünnen Serge-Kittel, den ich schnell am Morgen angezogen hatte, als ich vor Michael Mompellion geflohen war, trug ich nichts am Leib. In der Absicht, mir Elizabeths Reisemantel auszuborgen, kehrte ich wieder um. Da die Küche n türe am nächsten lag, lief ich hastig darauf zu und stürzte hinein.
Elizabeth Bradford drehte mir den Rücken zu. Dennoch genügte ein Sekundenbruchteil, und ich wusste, was sie vorhatte. Um ihr Kleid nicht zu ru i nieren, hatte sie sich die Mühe gemacht, ihre feinen Wollärmel bis über die Ellbogen hochzuschieben. Auf der Bank vor ihr stand ein Eimer voll Wasser. Darin steckten ihre Unterarme, und ich sah, wie ihre Muskeln angespannt waren. Sie hatte etwas Mühe, das Kind unter Wasser zu halten. Mit einem Riese n schritt war ich bei ihr und schob sie mit aller Macht beiseite. Nie hätte ich gedacht, dass ich so viel Kraft besaß. Das Kind entglitt ihr, und sie selber fiel zur Seite. Ich fuhr mit beiden Armen in den Eimer, zog das winzige Körperchen heraus und drückte es fest an mich. Der Eimer schwankte und fiel zu Boden; sein Inhalt ergoss sich über Elizabeth Bradfords Rock. Da das Kind vom Wasser ganz kalt war, rieb ich es ganz fest ab, als würde ich ein neugeborenes Lämmchen ins Leben zurückholen, das in einer ka l ten Nacht zur Welt kommt. Es spuckte, blinzelte und stieß dann einen empörten Schrei aus. Gott sei Dank war ihm nichts geschehen.
Meine Erleichterung wich einem derart heftigen Wutanfall, dass ich einen Fleischerhaken vom Ki e fernholztisch riss und m it dem Kind an der Brust auf Elizabeth Bradford losging. Sie rettete sich, indem sie sich zur Seite rollte. Nur mühsam kam sie auf den klatschnassen Steinen wieder auf die Beine. Voll Entsetzen über meine eigene Tat trat ich einen Schritt von ihr zurück und ließ den Haken fallen. Wortlos starrten wir einander an.
Endlich machte sie den Mund auf. »Es ist ein Ba s tard, das Ergebnis eines Ehebruchs. Mein Vater wird es nicht in seiner Nähe dulden.«
»Das mag schon sein, du mörderische Bestie. Trot z dem hast du kein Recht, ihr das Leben zu ne h men!«
»Sprich nicht so mit mir!«
»Ich werde mit dir reden, wie es mir passt!«
Inzwischen brüllten wir einander wie zwei Fisc h weiber an. Mit erhobener Hand setzte sie dem ein E n de.
»Siehst du das denn nicht ein?«, klagte sie nun. »Ein Schlussstrich unter diese Sache ist die einzige Chance meiner Mutter auf einen Neuanfang. Ander n falls ist ihr Leben vorbei. Glaubst du wirklich, ich töte es gerne? Das Kind meiner Mutter, meine Blut s verwandte? Ich tu’s doch nur, um meine Mutter vor dem Zorn meines Vaters zu bewahren.«
»Gib mir das Kind«, sagte ich. »Gib es mir, und ich werde es liebevoll aufziehen.«
Nachdenklich stand sie da, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, das wird nicht gehen. Wir können nicht zulassen, dass unsere Familienschande in diesem Dorf zur Schau gestellt wird, alle sie anstarren und darüber tuscheln. Außerdem würde man diesem Mädchen auch keinen Gefallen tun, wenn es im Schatten des Herrenhauses aufwachsen müsste und doch daraus verbannt wäre. Denn sicher würde sie ihre wahre Abstammung erfahren. Das geschieht in solchen Fällen immer.«
»Nun denn«, sagte ich. Inzwischen konnte ich wieder messerscharf denken. »Gib mir die nötigen Mittel, dann bringe i ch sie von hier fort und verspr e che dir, dass du nie wieder ein Wort von uns beiden hören wirst. Dann könnt ihr eine Geschichte nach eurem Gutdünken erzählen, du und deine Mu t ter.«
Bei diesen Worten zog Elizabeth Bradford die Augenbrauen hoch und kniff abwägend die Lippen zusammen. Lange Zeit sagte sie kein Wort. Meine Augen suchten in ihrem Gesicht nach einer Spur Mitgefühl oder Erbarmen mit ihrer Mutter, aber da fand sich nichts dergleichen. Nur kalte Berechnung. Diese Sache wurde wie alles, was die Bradfords b e traf, eiskalt unter nur einem Gesichtspunkt betrac h tet: dem des eigenen Interesses. Ich konnte den A n blick dieses harten, lippenlosen Gesichts nicht länger ertragen. Mein Blick wanderte zu dem Neugeborenen hinunter. Ich versuchte, ein Gebet für es zu sprechen. Ein einziges Wort formte sich in meinem Kopf.
Bitte.
Doch dann fiel mir beim besten Willen nichts mehr ein: kein Bittgebet, kein Bibelvers, kein Mess e text. Sämtliche Psalmen und
Weitere Kostenlose Bücher