Das Pestzeichen
unbekannte Geräusche an ihr Ohr drangen und sie die Augen wieder aufriss. Ängstlich blickte sie sich um. Susanna erinnerte sich an Geschichten über Wölfe und Bären, die sich in den heimischen Wäldern herumtreiben sollten. Ich kann weder wegrennen noch mich wehren , dachte sie und zerrte an den Fesseln. Das Leder der Zügel gab nicht nach, sondern schnitt in ihre Gelenke, die wie Feuer brannten. Susanna schrie vor Schmerzen auf, doch der Knebel dämpfte ihren Schrei. Durch den Fetzen im Mund wurde ihr Durst unerträglich. Verzweifelt lehnte sie den Kopf gegen den Baumstamm.
Als Urs Gersweiler vor sich erblickte, verlangsamte er seinen Schritt. Vor dichten Sträuchern blieb er stehen und nahm seinen Beutel vom Rücken. Heftig schnaufend legte er sich vor dem Buschwerk auf den Boden und wischte sich mit dem Stoff des Rucksacks den Schweiß aus dem Gesicht. Er wartete, bis sich sein Herzschlag beruhigt hatte, und setzte sich auf. Vor ihm lagen die Dächer der Häuser des Ortes, und Urs dachte angestrengt nach, was er tun könnte. Zuerst überlegte er, ins Gasthaus zu gehen und dort um Hilfe zu bitten. Er verwarf jedoch den Gedanken und wollte stattdessen den Bauern aufsuchen, auf dessen Wiese die Pferde gegrast hatten. Der Alte würde ihn sicherlich nicht abweisen und ihm helfen, Susanna aus den Fängen von Markus und Jeremias zu befreien. Urs hoffte auch, dass der Mann Nachbarn dafür gewinnen würde, sie bei Susannas Befreiung zu unterstützen.
Die Zeit drängte. Urs blickte zur Sonne. Er stand auf und ging den Weg hinunter nach Gersweiler. Als er den Dorfbrunnen erblickte, merkte er, wie seine Zunge am Gaumen klebte, und er eilte darauf zu, um seinen Durst zu stillen. Am Brunnenrand ließ Urs an der Winde den Eimer hinab und zog ihn gefüllt nach oben. Gierig setzte er das Gefäß an seine Lippen.
Kaum trank er den ersten Schluck, spürte er einen Schlag im Genick, und ihm wurde schwarz vor Augen.
Jeremias war, so schnell das Pferd galoppieren konnte, nach Gersweiler geritten und vor Urs dort eingetroffen. Da er wusste, aus welcher Richtung der Bursche kommen würde, hatte er den Gaul am anderen Ende des Ortes auf einer Weide festgebunden. Von dort schlich er bis zur Mitte des Dorfes und versteckte sich zwischen den Häuserruinen. Nur wenige Menschen kamen vorbei, und die bemerkten ihn nicht. Während Jeremias wartete, überlegte er, welchen Plan der Bursche ausbrüten könnte, und kam zu dem Schluss, dass Urs zuerst im Wirtshaus um Hilfe bitten würde. Jeremias musste nur noch warten und ihn abfangen, bevor er die Schenke erreichte. Sein Plan war, sofort zurück zur Pestkirche zu reiten, sobald er Urs die magischen Schriften weggenommen hätte. Das Mädchen würde er so lange als Pfand behalten, bis sie den Schatz gehoben hatten.
Jeremias grinste und blickte den Weg entlang, als Kinder an der Ruine vorbeirannten. Hastig duckte er sich hinter einem Geröllhaufen, sodass er unentdeckt blieb. Dabei fiel sein Blick auf den Boden, und er sah eine Tür, auf die das schwarze Pestkreuz gezeichnet war. Erschrocken griff Jeremias sich an den Hals und fühlte, wie sein Herz sich zu überschlagen drohte. Er hustete und räusperte sich, doch die Enge in seinem Hals wollte nicht verschwinden. Da er wusste, wo sich der Brunnen des Dorfs befand, pirschte er an den Hauswänden entlang, bis er wenige Schritte davor stand.
Da erblickte er den Burschen, wie der den Eimer in den Brunnen hinabließ. »Das nenne ich einen glücklichen Zufall«, murmelte Jeremias ungläubig und schlich sich wie einst im Krieg geräuschlos von hinten an. Kaum hatte der Junge seine Nase in den Wassereimer gesteckt, versetzte Jeremias ihm einen Schlag ins Genick. Urs sank geräuschlos zu Boden.
Jeremias durchsuchte sofort den Rucksack des Jungen und nahm jeden Gegenstand heraus. Doch die Schriften waren nicht zu finden. Wütend packte er Urs an der Schulter, um ihn wachzurütteln, als ein Mann von weitem rief: »Was hast du mit dem Burschen vor?«
Jeremias nahm zwei Bauern wahr, die mit Sense und Dreschflegel vom Acker kamen und bedrohlich auf ihn zueilten. Er wusste, dass er eine gute Erklärung haben musste, damit die Männer nicht das ganze Dorf zusammenriefen. Als Jeremias’ Blick auf den kleinen Tiegel fiel, den er kurz zuvor aus dem Rucksack genommen und achtlos zur Seite gelegt hatte, wusste er, was er den Männern antworten würde.
»Warum hast du den Jungen niedergeschlagen?«, fragte einer der beiden Bauern und blickte Jeremias
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