Das Pestzeichen
Knie. Mit beiden Händen packte sie den Stein und rüttelte daran. Tatsächlich gab er nach, und sie konnte ihn herausziehen. Susanna fürchtete, dass ihr Herz vor Aufregung zerspringen könnte. Heftig atmend und mit zittrigen Fingern griff sie in das Loch. Sie zog ein Lederetui heraus, das sie hastig in ihrem Kittelausschnitt versteckte. Sie prüfte, ob noch mehr in dem Versteck lag. Es war leer. Nachdem sie den Stein wieder eingesetzt hatte, verfüllte sie die Seiten mit feuchtem Schmutz, hoffend, es würde nicht auffallen, dass der Stein entfernt worden war.
Mit großen Schritten eilte Susanna den Hang hinauf zur Koppel, von wo sie einen guten Überblick hatte und Besucher rechtzeitig kommen sehen würde. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie setzte sich an den Stamm des alten Birnbaums, der mitten auf der Weide stand.
Während sie mehrmals mit wachem Blick die Gegend überprüfte, zog sie die Schutzhülle aus ihrem Ausschnitt hervor und betrachtete sie prüfend. Es war ein dunkelbraunes, weiches Lederstück, in das etwas eingerollt zu sein schien. Vorsichtig öffnete Susanna den Knoten der Kordel, die in mehreren Reihen um das Leder gewickelt war, und rollte den Inhalt aus. Zum Vorschein kam ein dünnes Heftchen mit eng beschriebenen Seiten. Da die Mutter Susanna und den Geschwistern Lesen und Schreiben sowie Rechnen beigebracht hatte, konnte Susanna die Wörter mühelos entziffern. Sie überflog die Seiten, und ihre Augen weiteten sich ungläubig.
Im Büchlein standen Zaubersprüche, Beschwörungsformeln und Anleitungen für magische Rituale. Es gab Vorlagen zu Zeichnungen von Symbolen mit angeblicher zauberischer Kraft. Der Verfasser der Schriften sprach von Geistern, die einen Schatz bewachten: »Diese Dämonen sind die Diener des Satans, gefallene Engel unterschiedlicher Macht, aber von einheitlichem, unbegrenztem und unbeschreiblichem Zerstörungswillen …«
Susanna spürte einen kalten Schauder über ihren Rücken jagen und schlug das Heft zu. Heftig atmend saß sie da und glaubte, die Schriften würden sich in ihre Finger einbrennen. Aufschreiend warf sie das Heft ins Gras und rieb ihre Hände mehrmals über den Rock, bis das Brennen nachließ. »Es sind Schriften des Teufels«, flüsterte sie und blickte ängstlich auf das magische Buch, denn sie glaubte, dass es jeden Augenblick in Flammen aufgehen müsste. Doch nichts geschah.
Susanna saß eine Weile da und starrte auf die Schriften, die der Sommerwind umblätterte. Es schien, als ob sie jeden Augenblick fortfliegen würden, sodass Susanna hochsprang und sie aufhob. Dabei fiel eine zusammengefaltete Seite heraus, die sie zuvor nicht bemerkt hatte.
Sie schlug das Blatt auf und erkannte sofort, dass Schrift und Tinte abweichend von den anderen Heftblättern waren. Zudem war diese Seite nicht beschrieben, sondern enthielt die Zeichnung einer Karte, die Susannas Neugierde weckte. Auf der Zeichnung las Susanna neben einem großen Punkt den Namen des Ortes Saarbrücken, daneben stand ein kleiner Punkt mit der Bezeichnung »Gersweiler« sowie ein schwarzes Kreuz, neben dem das Wort »Aschbach« stand. Dicht neben dem Kreuz war ein roter Kreis eingezeichnet.
»Was soll das bedeuten?«, überlegte Susanna. Sie wusste, dass in Saarbrücken der Graf von Nassau-Saarbrücken lebte, hatte aber noch nie etwas von Gersweiler oder Aschbach gehört. »Warum ein schwarzes Kreuz und ein roter Kreis?«, fragte sie sich und drehte und wendete das Blatt, in der Hoffnung, weitere Hinweise zu finden. Aber außer ein paar Zahlen, die schwach in der rechten unteren Ecke zu lesen waren, fand sie nichts. Doch dann erkannte sie schlagartig, was sie in Händen hielt.
»Es ist eine Schatzkarte!« Wie gebannt starrte sie auf den roten Kreis. »Dort liegt der Schatz vergraben, von dem Vater sprach. Nur, was bedeutet das Kreuz? Vielleicht eine Kirche?«, überlegte sie. Susannas Hände wurden vor Aufregung feucht, und sie musste achtgeben, dass die Tinte nicht verschmierte. Eifrig wischte sie sich die Finger am Stoff ihres Kittels trocken und blies ihren Atem dagegen. Erst dann fasste sie das Heftchen an und blätterte darin, fand aber keinen weiteren Hinweis. Nur diese beigefügte Seite schien den Ort zu verraten.
Susanna blickte erschrocken auf, denn beim Lesen der Schriften hatte sie jegliches Zeitgefühl verloren und nicht bemerkt, dass die Sonne bereits unterging. Auch meldete sich ihr Magen. »Wieder habe ich nichts zu essen«, jammerte sie und wickelte das Heftchen
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