Das Pestzeichen
versank. Erschrocken schauten sich beide an.
»Oje«, flüsterte Johanna. »Das wird Schelte geben!«
»Ich werde deinem Oheim sagen, dass es meine Schuld ist«, schlug Susanna vor, als sie sah, wie sich Johannas Augen mit Tränen füllten.
Das Mädchen schien abzuwägen, doch dann schüttelte es den Kopf. »Man darf nicht lügen«, wisperte sie.
»Auch nicht, wenn es sich um eine Notlüge handelt?«
»Auch dann nicht«, erklärte Johanna und ging mit hängenden Schultern zurück ins Haus.
Beide hatten nicht die Bäuerin bemerkt, die in der Tür gestanden und alles mit angehört hatte.
Susanna nahm die beiden gefüllten Eimer und ging mit einem mulmigen Gefühl in die Küche, wo sie überrascht in der Tür stehen blieb. Johanna hing weinend in den Armen ihres Oheims, der ihr beruhigend über den Rücken strich. »Es war kein wertvoller und kein schöner Krug.«
»Aber es war dein Krug, den du in der Töpferei zu Düppenweiler hast anfertigen lassen«, schluchzte Johanna an seiner Brust.
Der Oheim tröstete sie: »Weine nicht, mein Engelchen. Eines Tages werden unsere Nachfahren den Krug auf dem Boden des Brunnens finden und sich unser erinnern.«
Als der Mann Susanna erblickte, zwinkerte er ihr verschmitzt lächelnd zu und streichelte seiner Nichte über das lange blonde Haar.
Am Sonntag ruhte die Arbeit. Susanna lag im hohen Gras auf der Weide und blickte in den Himmel, als sich die Bäuerin zu ihr gesellte.
»Die Zwillinge, Sophie und Kläuschen, halten ihre Mittagsruhe, ebenso der Oheim und meine Mutter. Ich kann jetzt durchschnaufen«, lachte sie und fragte: »Darf ich mich zu dir setzen?«
Susanna nickte erstaunt.
Die Bäuerin ließ sich ins Gras nieder und schaute einem Turmfalken zu, der mit heftigem Flügelschlag in der Luft zu stehen schien.
»Ich habe Johanna und dich belauscht, als sie den Krug in den Brunnen fallen ließ«, erklärte die Bäuerin.
Susanna schluckte, denn sie fürchtete, getadelt zu werden. Ängstlich betrachtete sie die Frau mit den dunkelblauen Augen und den blonden Haaren, die sie zu einem dicken Zopf geflochten hatte. Doch konnte sie keinen Vorwurf erkennen, weder in der Stimme noch in ihrem Blick. »Warum erzählst du mir das?«, fragte sie scheu.
»Ich bin stolz auf meine Tochter, die das neunte Gebot eingehalten hat. Bei dir möchte ich mich bedanken, dass du selbstlos die Schuld auf dich nehmen wolltest, um Johanna zu schützen. Es geschieht nicht oft im Leben, dass jemand die Fehler eines anderen auf sich lädt. Deine Eltern können stolz auf dich sein«, lobte die Bäuerin.
Susanna spürte, wie ihre Unterlippe zitterte, und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Bestürzt nahm die Bäuerin sie in die Arme und versuchte sie zu trösten. Bislang hatte Susanna niemandem vom Verlust ihrer Eltern und Geschwister erzählt, zumal keiner gefragt hatte. Doch nun berichtete sie mit brüchiger Stimme vom Überfall auf den Hof und von den Morden, und nach anfänglichem Zögern auch von Jeremias.
Die Bäuerin war entsetzt. Nachdenklich fragte sie: »Ich verstehe nicht, warum dieser Mann hinter dir her sein soll. Auch nicht, warum du der Ansicht bist, dass er mit dem Mord an deinen Eltern zu tun haben könnte.«
Susanna blickte die Frau aus tränennassem Gesicht an. Laut ausatmend wischte sie sich mit der Schürze über das Gesicht und schniefte in ein Tuch. Dann fasste sie sich ein Herz und zog das Heftchen mit den magischen Schriften, das sie Tag und Nacht bei sich trug, aus ihrem Kittel. »Deshalb«, flüsterte sie und reichte es der Bäuerin.
»Ich bin des Lesens nicht mächtig«, entschuldigte sie sich.
»Du kannst nicht lesen?«, fragte Susanna erstaunt.
»Nur ein bisschen«, gab die Frau zu. »Mein Mann und mein Vater können es.«
»Ich kann die Buchstaben leicht entziffern, weil meine Mutter mich und die Geschwister lesen und schreiben lehrte«, erklärte Susanna und faltete das Heft auseinander.
»Was steht auf den Blättern?«, fragte die Bäuerin neugierig.
Mit leiser Stimme weihte Susanna sie in das Geheimnis der magischen Schriften ein.
Die Augen der Frau wurden größer, und sie murmelte: »Unglaublich!«
Doch dann starrte sie nachdenklich an Susanna vorbei. Erst als diese weitererzählte, wandte sich ihr Blick wieder dem Mädchen zu.
»Ich habe keine Ahnung, wie ich an den Schatz gelangen könnte oder wo er liegt. Zwar kann ich die Schrift lesen, doch verstehe ich sie nicht. Und Fremden kann ich nicht erzählen, dass ich eine Schatzkarte
Weitere Kostenlose Bücher