Das Pestzeichen
Fünfjährige. »Wenn ich ihn rufe, kommt er angelaufen«, verriet er mit leuchtenden Augen.
»Ludwig, du weißt, dass Dickerchen Susannas Pferd ist?«, ermahnte ihn der Bruder.
Der Junge nickte mit gesenktem Kopf.
»So kann man das nicht sagen«, murmelte Susanna verlegen.
Als aller Augen auf sie gerichtet waren, erzählte sie, wie sie zu dem Pferd gekommen war. Am Tisch erschallte lautes Gelächter.
»Was wollten die fremden Männer auf eurem Hof?«, fragte der Knecht.
»Es waren Plünderer«, erklärte Susanna und blickte scheu zur Bäuerin.
Nach dem Essen gingen die Kinder und die Großmutter schlafen. Die Magd und der Knecht wollten einen Spaziergang machen, und Paul wollte sich mit einem Burschen am Wiesbach treffen. Am Tisch saßen noch die Bauersleute und der Oheim. Da Susanna Küchendienst hatte, räumte sie ab und wusch das Geschirr. Als sie mit ihrer Arbeit fertig war, wollte sie ebenfalls zu Bett gehen, doch die Bäuerin rief ihr zu: »Setz dich zu uns.«
Überrascht tat Susanna, wie ihr geheißen, und grübelte, ob sie ihre Arbeit nicht zufriedenstellend verrichtet hatte. Schon während des Abendbrots hatte sie das Gefühl beschlichen, dass der Oheim und der Bauer sie aufmerksam betrachteten. Blickte Susanna jedoch in ihre Richtung, schauten sie weg oder redeten mit der Bäuerin.
»Habe ich …«, wollte das Mädchen fragen, als der Bauer ihr das Wort abschnitt und sagte: »Wir wollen mit dir reden.«
Erstaunt blickte sie auf. Drei Augenpaare waren auf sie gerichtet, und Susanna vermutete Schlimmes.
»Die Bäuerin hat uns von deinen Schriften erzählt.«
Susannas Mund wurde trocken, und sie konnte nur nicken.
»Würdest du sie uns ebenfalls zeigen?«
Das Mädchen zögerte.
»Wir wollen sie dir nicht wegnehmen, sondern sie nur lesen.«
Beruhigt griff Susanna in ihren Ausschnitt, zog das Heftchen hervor und reichte es dem Bauern, der kurz zu seinem Bruder blickte. Seine Augen bekamen einen besonderen Glanz, der Susanna an ihren Vater erinnerte. Die beiden Brüder lasen in dem Heft, nickten und flüsterten.
Susanna spürte, wie angespannt sie war, und schnaufte laut aus.
Die Bäuerin nahm ihre Hand und drückte sie sanft. »Es ist alles gut«, beruhigte sie das Mädchen und lächelte es freundlich an, sodass es Susanna leichter ums Herz wurde.
»Du weißt, was du mit dir herumträgst?«, fragte der Oheim ernst.
Susanna zuckte mit den Schultern und nickte gleichzeitig.
»Mein Vater erzählte mir vor seinem Tod, dass es sich um magische Schriften handelt.«
»Und weißt du, wofür man die Schriften benötigt?«
»Um einen Schatz zu finden?«, fragte sie.
»So kann man es einfach ausdrücken. In Wahrheit steckt mehr dahinter. Die Bäuerin sagt, dass du die Zeilen lesen kannst.«
»Ja, aber ich verstehe sie nicht«, erklärte Susanna leise und fragte: »Kannst du sie deuten?«
Ein verschmitztes Lächeln überzog das Gesicht des Oheims. »Wir haben solche Schriften schon einmal gesehen und gelesen.«
Ungläubig sah Susanna den Mann an. »Seid ihr Schatzsucher und deshalb so reich?«, fragte sie ehrfürchtig.
Nun brachen die Männer in lautes Gelächter aus. »Du meinst, ob wir einen Schatz gefunden haben?«
Susanna nickte.
»Leider nein«, antwortete der Oheim und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
Nachdem er sich beruhigt hatte, erklärte er: »Wir waren nur schlauer als andere. Als wir hörten, dass feindliche Truppen umherziehen und Höfe plündern, haben wir so viel Saatgut wie möglich versteckt, ebenso wie den halben Viehbestand.«
»Die Soldaten haben beides nicht gefunden?«, fragte Susanna zweifelnd. Sie wusste, dass es den wenigsten Bauern gelungen war, ihren Besitz vor Söldnern zu retten.
»Wir haben das Saatgut in mehrere Schweinsblasen gefüllt und im Brunnenschacht versenkt. Leider ist beim Hochziehen eine Blase gerissen, und das Saatgut schwamm auf dem Wasser. Das meiste konnten wir jedoch retten.«
»Und das Vieh?«
»Das haben wir in einem geheimen Raum unter dem Stall verborgen«, verriet der Bauer. »Zum Glück sind die Truppen nur wenige Tage in Eppelborn geblieben. Nachdem wir ihnen den Ochsen, drei Hühner und ein Schwein überlassen hatten, zogen sie ihres Weges.«
»Mich packt immer noch die Wut!«, brauste die Bäuerin auf.
»Beruhige dich! Wenn ein Kampf so lange dauert wie dieser und zudem unzählige Soldaten aus vieler Herren Länder daran teilnehmen, muss das Volk für die Truppenversorgung herhalten. Der Krieg ernährt den Krieg«,
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