Das Pestzeichen
seine sonderbare Aussprache darauf schließen ließ, dass er wirr im Kopf sein musste.
Sofort blieb der Bursche stehen, und Susanna atmete erleichtert aus. Kopfschüttelnd blickte er zu ihr herunter und murmelte Worte, die hart und fremd für sie klangen. Susanna verstand nicht eine Silbe und schaute ihm eingeschüchtert in die Augen. Als sie jedoch seinen freundlichen Blick sah, in dem sie nichts Hinterhältiges erkennen konnte, entspannte sie sich langsam. Allerdings blieb sie wachsam, denn trotz aller Freundlichkeit, die von ihm ausging, mochte sie den Fremden nicht leiden. Und als er wieder zu ihr sprach, spürte sie erneut einen Anflug von Furcht in sich hochsteigen.
»Du bist verletzt«, erklärte er und zeigte auf den Blutfleck.
»Das weiß ich selbst«, blaffte sie und blickte ihn kratzbürstig an.
Der Junge schwieg und sagte dann mit ernster Miene: »Deine Verletzung scheint sich entzündet zu haben, denn ich kann Eiter riechen. Wenn die Wunde nicht versorgt wird, könntest du daran sterben.«
»Das kann nicht sein! Ein Freund hat die Wunde mit Schnaps gesäubert und verbunden«, erwiderte sie unwirsch.
»Dann hat er sie nicht gründlich ausgewaschen, denn deine Augen glänzen fiebrig, und Fieber deutet auf eine Entzündung hin. Wenn du willst, bringe ich dich zu meiner Familie. Dort werde ich deine Wunde versorgen.«
»Deine Familie?«, fragte sie misstrauisch.
»Meine Eltern und Geschwister erwarten mich mit dem Essen«, schmunzelte der Bursche und zeigte auf das erlegte Stück Wild an seinem Gürtel. »Nicht weit von hier haben wir unser Lager errichtet. Dort kann ich mir deine Verletzung ansehen und sie mit Kräutern behandeln.«
»Kannst du heilen?«, fragte sie zaudernd.
Er nickte, ohne mehr zu erklären.
Susanna überlegte und wog ab. Der Gedanke, allein im Wald zurückzubleiben und womöglich sterben zu müssen, machte ihr Heidenangst. Aber sie kannte den Jungen nicht und wusste nicht, ob sie ihm trauen konnte. Unschlüssig kaute sie auf ihrer Unterlippe. Ihr Eigensinn siegte, und sie setzte sich auf, um ihm zu sagen, dass er verschwinden solle, als der Schmerz wie ein Blitz durch ihren Körper zuckte. Keuchend legte sie sich zurück an den Baumstamm.
Urs betrachtete das Mädchen, das ihn mit bangem Blick musterte. Die Haut der Verletzten war leichenblass, ihre Hände zitterten, und ihr Atem ging stoßweise. Obwohl nun Sonnenlicht in ihr Haar schien, wirkte es matt und stumpf. Als er den Blutfleck an ihrem Kittel bemerkte, wäre er gerne zu ihr geeilt, um ihr zu helfen, doch ihr feindseliger Widerwille hielt ihn davon ab. Während er dastand und sich nicht näher heranwagte, fragte er sich, wer ihr das angetan hatte und wo der Reiter des Schlachtrosses war. Ob sie ihn umgebracht hat? , überlegte Urs und verwarf den Gedanken sofort, denn das Mädchen sah nicht wie eine Mörderin aus, und in ihrem Zustand hätte sie sich zwar wehren, doch bestimmt nicht töten können. Urs verstand ihre zurückweisende und misstrauische Haltung, jedoch nicht, dass sie seine Hilfe zurückwies. Die Zeit drängte, und er befürchtete einen Wundbrand, der dringend behandelt werden musste. Doch wie sollte er ihr den Ernst der Lage erklären?
Als er ihren schmerzverzerrten Gesichtsausdruck sah, wollte er zu ihr springen, um ihr zu helfen, aber ihr feindseliger Blick hielt ihn davon ab. Urs hatte bei seinem Oheim genügend Erfahrung in der Heilkunst sammeln können und traute sich zu, ihre Wunde fachmännisch zu versorgen. Doch seine guten Absichten nutzten nichts, wenn das Mädchen seine Hilfsbereitschaft ablehnte. Er blickte zu den Baumkronen hinauf.
»Ich muss zu meiner Familie und kann nicht länger warten«, sagte er schließlich und nahm Armbrust und Köcher auf. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich um.
Da hörte er sie schreien: »Nimm mich mit!«
»Wo bleibt der Junge?«, fragte Barbli und schaute besorgt hinüber zu der Stelle, wo ihr Sohn im Wald verschwunden war. »Es ist schon hell, und Urs ist viel zu lange fort.«
»Es wird ihm nicht gleich ein Stück Wild vor die Armbrust gelaufen sein«, meinte ihr Mann und versuchte zu lächeln, obwohl auch er Unruhe spürte. Um sich abzulenken, ging Jaggi zum Feuer und legte einen weiteren dicken Ast darauf.
»Mutter, ich habe Hunger«, jammerte die dreijährige Vreni und rieb sich die Augen. Sie war ebenso wie ihr Bruder Leonhard aufgewacht. Barbli drückte jedem Kind eine trockene Scheibe Brot in die Hand, als das Schnauben eines Pferdes die Stille auf
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