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Das Phantom der Freiheit

Das Phantom der Freiheit

Titel: Das Phantom der Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Luif
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Colorado-Damms; dort hatten so viele Leute gearbeitet, daß niemand sich an ihn erinnern konnte. Jedenfalls wäre es verständlich, wenn sich kein Aufseher finden ließe, der ihn kannte. Die alten Lohnlisten waren sicherlich längst beim Altpapierhändler gelandet.
    Nun, wo das Gerüst stand, galt es die Zwischenräume auszufüllen. Jede Ortsveränderung, jeder Arbeitsplatzwechsel mußte in den Unterlagen erscheinen; aber bei einem armen Schwein aus den Slums brauchte man weder Reisen noch häufige Umzüge zu berücksichtigen. Thornberg machte ein paar Anleihen bei anderen Lebensläufen und brachte Sam Hall gleich für ein halbes Jahr in einem schäbigen Hotel für Dauergäste unter. Sam Halls gegenwärtige Adresse war das »Triton« in Brooklyn, ein Obdachlosenasyl. Augenblicklich ohne festen Wohnsitz und arbeitslos. Gibt an, von Gelegenheitsarbeiten in den Markthallen und eigenen Ersparnissen zu leben.
    Nun zur körperlichen Erscheinung. Mittelgroß, untersetzt, Haarfarbe schwarzbraun, Farbe der Augen grau. Besondere Kennzeichen – Stirnnarbe, Schnurrbart. Thornberg fügte die genauen Körpermaße ein. Es war nicht schwierig, die Fingerabdrücke zu fälschen; das Archiv war voll von alten Unterlagen über Leute, die schon vor Einrichtung der zentralen Aufzeichnungsstelle gestorben und darum nicht mehr in die Datenspeicher gekommen waren. Er suchte ein Mikrofilmblatt heraus und kopierte die Abdrücke.
    Als er fertig war, lehnte er sich zurück und seufzte. Es gab noch viele Löcher, aber die konnte er ausfüllen, wann es ihm paßte. Er hatte ein paar Stunden hart und konzentriert gearbeitet – völlig sinnlos obendrein, außer daß er dabei Dampf abgelassen hatte. Er fühlte sich viel besser.
    Er blickte auf seine Uhr. Es war Zeit, wieder an seine richtige Arbeit zu gehen. Einen Moment wünschte er sich, daß die Uhr nie erfunden wäre. Sie hatte die Wissenschaft und die Technik möglich gemacht, die er liebte, aber sie hatte gleichzeitig den Menschen versklavt. Er stand auf und hinkte steif aus dem Archiv. Die Tür schloß sich hinter ihm.
     
    Ungefähr einen Monat später beging Sam Hall seinen ersten Mord.
    Am Abend zuvor war Thornberg früher als sonst nach Hause gegangen. Sein Rang berechtigte ihn zu angemessener Unterbringung, obwohl er allein lebte, und er bewohnte eine kleine Zweizimmerwohnung mit Bad im neunzehnten Stock eines Wohnblocks in der Stadt, nicht weit vom getarnten Eingang zu Matildas unterirdischer Domäne. Die Tatsache, daß er Offizier der Sicherheitspolizei war, auch wenn er nicht zur Menschenjagdabteilung gehörte, verschaffte ihm soviel vorsichtige Ehrerbietung, daß er sich oft einsam fühlte.
    Er hatte seine Bücherregale nach entspannender Lektüre durchsucht. Das Büro für Literatur hatte sich in letzter Zeit für Walt Whitman stark gemacht, »als ein frühes Beispiel von positivem Amerikanismus«, wie es hieß, aber obgleich Thornberg den wortmächtigen Dichter immer geschätzt hatte, griffen seine Finger zu einem Band mit Stücken von Christopher Marlowe (1564–1593). War das Eskapismus? Das Büro für Literatur war sehr gegen Eskapismus. Schließlich lebte man in einer harten Zeit und gehörte der Nation an, die einer widerspenstigen Hälfte der Welt die Freiheit und alles das zu bewahren hatte. Da mußte man realistisch und energisch sein, kein Zweifel.
    Das Telefon summte. Er ging hin und legte den Schalter um. Martha Obrenowicz' einfaches rundes Gesicht blickte aus dem kleinen Bildschirm. Ihre Augen waren geschwollen, ihre grauen Haare wirr, und ihre Stimme klang heiser und schluchzend.
    »Oh, äh – hallo«, sagte er unbehaglich. Seit der Nachricht von der Verhaftung ihres Sohnes hatte er sie nicht mehr angerufen. »Wie geht es dir?«
    »Jimmy ist tot«, sagte sie ihm.
    Er stand lange Sekunden und brachte kein Wort heraus. Sein Kopf war wie ein ausgeblasenes Ei.
    »Ich bekam heute Nachricht, daß er im Lager gestorben ist«, sagte Martha. »Ich dachte, du solltest es erfahren.«
    Thornberg schüttelte langsam und betrübt seinen Kopf. Er konnte ihr nicht in die Augen sehen. »Eine schlimme Nachricht, Martha«, sagte er stockend. »Ich hatte wirklich gehofft, daß es nie soweit kommen würde.«
    »Es ist nicht recht!« schrie sie auf. »Sie haben ihn ermordet! Jimmy war kein Verräter. Ich kannte meinen eigenen Sohn. Wer könnte ihn besser kennen? Er hatte ein paar Freunde, die zweifelhaft waren, aber Jimmy, er hätte nie ...«
    Thornberg fühlte einen unangenehmen Druck im

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