Das Phantom der Freiheit
Mangel an schlüssigen Beweisen in Gefahr zu bringen. Vielleicht hatte Nikolsky das Verbrechen begangen – er konnte nicht nachweisen, daß er in der fraglichen Nacht nur ausgegangen war, um Zigaretten aus einem Automaten zu holen –, vielleicht hatte er nicht. Aber zum Teufel, warum sollte man ihm nicht eine Chance geben? Er hatte vier Kinder. Wurde er wegen Polizistenmordes hingerichtet, gäbe es für die Mutter dieser Kinder kaum eine Möglichkeit, anständige Arbeit zu finden.
Thornberg kratzte seinen Kopf. Dieses Ding mußte sorgfältig angefaßt werden. Mal sehen. Bradys Leichnam würde inzwischen eingeäschert sein, aber natürlich hatte es zuvor eine gründliche Untersuchung gegeben. Thornberg forderte die Unterlagen des Toten an und studierte die vergrößerte Kopie. Der Obduktionsbefund und die Angaben der Spurensicherung gaben so gut wie nichts her. Thornberg fügte die Feststellung ein, daß am Kragen des Opfers ein verwischter Daumenabdruck gefunden worden sei, der zur Rekonstruktion der Zentralen Aufzeichnungsstelle, Abteilung Spurenauswertung und Identifikation, eingesandt wurde. In die Arbeitsberichte der betreffenden Abteilung setzte er die Meldung über die Ausführung eines solchen Auftrags, wegen Arbeitsüberlastung erst gestern erledigt. Der rekonstruierte Daumenabdruck sei nicht mit dem des verhafteten Nikolsky identisch, sondern stamme mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von einem gewissen Sam Hall (Angaben zur Person beigefügt).
Er schickte die Unterlagen in die Datenspeicher zurück, lehnte sich in den Sessel und überlegte. Es war riskant; wenn jemand auf die Idee käme, im Laboratorium der Auswertungsabteilung nachzufragen, wäre er erledigt. Aber das war unwahrscheinlich; die New Yorker würden das Ergebnis akzeptieren und eine der üblichen Empfangsbestätigungen schicken, die irgendeine Aushilfskraft im Laboratorium zusammen mit den übrigen abheften würde. Auch die anderen Gefahren waren nicht allzu groß: eine überarbeitete Polizeiorganisation würde nicht lange fragen, ob einer der Fingerabdruckspezialisten in der Kriminalabteilung tatsächlich vor einigen Wochen diesen verwischten Abdruck fixiert und zur Untersuchung eingesandt hatte. Und wenn Nikolsky in den Verhören als der wirkliche Mörder entlarvt würde, nun, dann würde man annehmen, daß der Fingerabdruck von einem unbeteiligten Dritten stamme, der den Leichnam gefunden hatte, ohne davon Meldung zu machen.
Nun hatte Sam Hall also einen Sicherheitspolizisten erschlagen – ihn am Kragen gepackt und seinen Schädel mit einem stumpfen Gegenstand zerschmettert. Thornberg fühlte sich viel besser.
Die New Yorker Sicherheitspolizei schickte der Zentralen Aufzeichnungsstelle ein Fernschreiben mit der Frage nach irgendwelchem neuem Material im Fall Brady. Die Lesestation erhielt es, verglich die Codenummern und programmierte den Computer. Dieser stellte fest, daß neue Informationen eingespeichert worden waren, und gab sie aus. Die Antwort ging über Fernschreiber nach New York, zusammen mit dem kompletten Dossier über Sam Hall.
Der bewaffnete Polizeitrupp, der noch am selben Tag ins »Triton« stürmte und Sam Hall verlangte, begegnete verständnislosen Blicken. Keine Person dieses Namens war als Schlafgast eingetragen. Ein Mann, auf den die Beschreibung zutraf, war den derzeitigen Bewohnern des Asyls unbekannt. Eine gründliche Befragung bestätigte dies. Also war es Sam Hall gelungen, den Behörden eine falsche Anschrift unterzuschieben.
Joe Nikolsky, unter Schlägen, Drohungen und Drogen verhört, erwies sich als unschuldig und wurde freigelassen. Die Geldstrafe für den Besitz subversiver Literatur würde ihn für die nächsten Jahre in Schulden stürzen – er hatte keine einflußreichen Freunde, die ihm eine Suspendierung hätten erwirken können –, aber wenn er keine Dummheiten machte, würden sie ihn in Ruhe lassen. Die Sicherheitspolizei erließ einen Haftbefehl für Sam Hall.
Thornberg beobachtete die Fortschritte der Jagd anhand der bei Matilda eingehenden Meldungen und amüsierte sich heimlich. Niemand mit Sam Halls Ausweis hatte Fahr- oder Flugkarten für irgendein öffentliches Verkehrsmittel gekauft. Das bewies nichts. Jedes Jahr verschwanden Hunderte von Leuten spurlos, und wenigstens einige von diesen wurden wegen ihrer Ausweiskarten umgebracht und beseitigt.
Thornberg schlief jede Nacht schlechter, und seine Arbeit litt darunter. Einmal begegnete er Martha Obrenowicz auf der Straße
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