Das Phantom der Freiheit
»Allah sei gepriesen, das ist vorbei. Jetzt kann ich 'runter in die Zentrale.«
»Nachmittags haben Sie Verabredungen«, erinnerte sie ihn.
»Nach dem Mittagessen bin ich wieder hier. Bis später.« Er stand auf und verließ das Büro.
Eine Treppe abwärts zu einer noch tieferen unterirdischen Ebene, einen Korridor entlang. Er erwiderte die Ehrenbezeigungen entgegenkommender Techniker in mechanischer Manier. Sein Gesicht war unbewegt, und vielleicht sagte nur das steife Schwingen seiner Arme etwas.
Jimmy, dachte er. Jimmy, Junge.
Er hinkte durch den Wachraum, legte seine Hand auf die Identifikationsplatte neben der Tür und brachte sein rechtes Auge an die Gummimuschel, aus der ihm die Linse entgegenstarrte. Handabdruck und Netzhaut des Auges waren sein Ausweis; sie wurden von Fotozellen abgetastet und verglichen; die Tür öffnete sich, und er ging in Matildas Tempel.
Sie kauerte massig vor ihm, eine mächtige zweistöckige Anlage aus Schalttafeln, Programmierpulten, Kontrollinstrumenten und Speicherschränken, flankiert von Ausdruckstationen. Sie erinnerte ein wenig an eine niedrige aztekische Tempelpyramide. Die Götter murmelten in ihr und zwinkerten mit roten Augen die Männer an, die sich hier und dort an den Pulten zu schaffen machten. Es tickte und summte und blinkte, und aus einem Nebenraum kam das gedämpfte Geschnatter der Eingabestationen. Thornberg blieb einen Moment stehen und betrachtete das Schauspiel. Dann lächelte er müde. Von irgendwo kam eine Erinnerung, eine unklare Gedankenverbindung, und er dachte an einige Bücher, die er gelesen hatte, geschmuggeltes Zeug aus der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, verfaßt von Franzosen, Deutschen, Italienern, Engländern. Die Intellektuellen der damaligen Zeit waren alle von der Amerikanisierung Europas beunruhigt und entsetzt gewesen, dem Zerbröckeln alter Kultur und Lebensweise unter der Sturmflut der mechanisierten Barbarei von Cocktails, Konsumgüterwerbung, Kaugummi, Plastik, verchromten Straßenkreuzern. Nun, nicht sehr viel später war es zu einer ähnlichen durchgreifenden Europäisierung Amerikas gekommen, wenn auch auf einer anderen Ebene: straffe Regierungskontrolle, eine Militärkaste, Allmacht der Bürokratie, Zensur, Nationalismus, Überwachung der Bürger. Die gerechte Revanche, vielleicht.
Nun gut.
Aber Jimmy, Junge, wo magst du jetzt sein, was machen sie mit dir?
Thornberg ging zum anderen Ende des Raums, wo sein bester Elektronikingenieur, Rodney, ein Gerät testete. »Wie macht es sich?« fragte er.
»Ganz ordentlich, Chef«, sagte Rodney. Er verzichtete auf formelle Anrede und den militärischen Brauch des Aufspringens und Salutierens; tatsächlich hatte Thornberg diese Dinge als unnötige Zeitvergeudung abgeschafft, solange gearbeitet wurde. »Ein paar Haken sind noch drin, aber wir kriegen sie schon 'raus.«
Man brauchte einen Trick, der es erlaubte, das magnetische Speichersystem auf Nummern umzustellen, ohne sonst etwas zu verändern und ohne jede Speichertafel einzeln umzuprogrammieren. »Gut«, sagte Thornberg. »Ich werde selber ein paar Tests machen.«
»Brauchen Sie einen Assistenten?«
»Nein, danke. Ich will nur nicht gestört werden.«
Thornberg ging weiter und öffnete die Tür zum Archivraum, indem er sich abermals auswies. Nicht viele hatten hier Zutritt. Das vollständige Einwohnerarchiv mit dem gesamten Material der Sicherheitspolizei war zu wertvoll, um es durch Leichtfertigkeit zu gefährden.
Thornbergs Loyalitätseinstufung war AAB-2 – nicht absolut vollkommen, aber für einen Mann mit seinem Wissen und seinem Einblick in die Zusammenhänge immer noch ausgezeichnet. Seine letzte Überprüfung – vorgenommen unter dem Einfluß enthemmender Psychopharmaka – hatte gewisse Zweifel an der Regierungspolitik enthüllt, aber von Ungehorsam oder Gegnerschaft konnte keine Rede sein. Außerdem war er zu Loyalität verpflichtet. Er hatte sich im Krieg gegen Brasilien ausgezeichnet und im Kampf ein Bein verloren; seine Frau war im gleichen Krieg mit einem torpedierten Schiff untergegangen; sein Sohn war ein aufstrebender junger Offizier in der Raumflotte. Niemand konnte ihm nachsagen, er habe keine Opfer für sein Land gebracht. Er hatte verbotenes Zeug gelesen und gehört, Bücher, die auf der schwarzen Liste standen, Untergrund- und Auslandspropaganda, aber das tat jeder intelligente Mensch, wenn er die Gelegenheit hatte; es war kein schweres Vergehen, vorausgesetzt, man hatte einen sonst
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