Das Phantom der Freiheit
zu einem Psychiater gehen – aber nein, der Mann würde verpflichtet sein, seine Geschichte zu melden, er würde in einem Lager landen, und Jack, wenn auch nicht runiniert, würde den Rest seines Lebens wie unter einer dunklen Wolke zubringen, um seine Karriere betrogen. Außerdem hatte Thornberg kein Verlangen nach dem Leben in einem Konzentrationslager. Seine gegenwärtige Existenz war so zufriedenstellend, daß sie ihn, wenn auch nicht korrumpiert, so doch geneigt gemacht hatte, manches in Kauf zu nehmen: interessante Arbeit, ein paar gute Freunde, Musik und Literatur, anständiger Wein, Sonnenuntergänge und Berge, Erinnerungen. Er hatte sich impulsiv auf dieses Spiel eingelassen, und nun war es zu spät, damit aufzuhören.
Denn Sam Hall war inzwischen zum Staatsfeind Nummer Eins avanciert.
Der Winter kam, und die Hänge der Rocky Mountains, unter deren Ausläufern Matilda verbunkert war, lagen weiß unter einem kalten, grünlichen Himmel, Thornberg fuhr jeden Morgen mit dem Sonderbus zur Arbeit, aber oft ging er nachmittags die sechs Kilometer zu Fuß nach Haus, und seine Sonntage verbrachte er gewöhnlich mit langen Wanderungen auf schlüpfrigen oder verschneiten Vorgebirgspfaden. Das war allein und im Winter nicht gerade vernünftig, aber er fühlte sich leichtsinnig.
Es war kurz vor Weihnachten, und er arbeitete in seinem Büro, als ein Anruf kam: »Major Sorensen für Sie, Sir. Von der Fahndungsabteilung.«
Thornbergs Magen krampfte sich zu einem kalten Klumpen zusammen. »In Ordnung«, sagte er mechanisch. »Schicken Sie ihn herein.« Die Fahndungsabteilung hatte Priorität vor allen anderen.
Sorensen marschierte mit hartem, militärischem Stiefeltritt herein, ein breitschulteriger Mann mit steinerner Miene und Augen, die so blaß und kalt entfernt waren wie der Winterhimmel. Die schwarze Uniform saß wie angegossen. Er nahm steif vor dem Schreibtisch Aufstellung, und Thornberg erhob sich und salutierte unbeholfen.
»Bitte nehmen Sie Platz, Major Sorensen. Was kann ich für Sie tun?«
»Danke.« Er ließ sich auf dem Besucherstuhl nieder und durchbohrte Thornberg mit seinen Augen. »Ich bin wegen des Falles Sam Hall gekommen.« Seine Stimme war metallisch hart und ziemlich hoch.
»Ah – Sie meinen diesen Rebellen?« Thornberg fühlte sich von einer Gänsehaut überlaufen. Es kostete ihn seine ganze Kraft, dem Blick dieser Augen standzuhalten.
»Woher wissen Sie, daß er ein Rebell ist?« fragte Sorensen sofort. »Es gibt keinen eindeutigen Beweis dafür.«
»Nun, ich nahm es an – der Banküberfall – und die Suchplakate sagen, daß er ein Mann des Untergrunds sei ...«
Sorensen ging der Frage nicht weiter nach. Er neigte seinen Kopf ein wenig auf die Seite und sagte in einem entspannten, beinahe beiläufigen Ton: »Sagen Sie mir, Major Thornberg, kennen Sie das Dossier dieses Hall in seinen Einzelheiten?«
Thornberg zögerte. Es gehörte nicht zu seinen Aufgaben, sich intensiv mit Personalunterlagen zu beschäftigen, es sei denn, er wurde von anderen Dienststellen darum gebeten; er hatte nur dafür zu sorgen, daß die Maschine richtig lief. Eine Erinnerung kam ihm in den Sinn, etwas, das er einmal gelesen hatte: »Wenn du eines schweren Vergehens verdächtigt wirst, gestehe die leichten freimütig ein; es entwaffnet das Mißtrauen.« Oder so ähnlich.
»Ja, ich habe mich damit befaßt«, sagte er. »Ich weiß, es gehört nicht zu meinen dienstlichen Pflichten, aber ich war interessiert, und schaden konnte es nicht. Selbstverständlich habe ich mit niemandem darüber diskutiert.«
Sorensens muskulöse Hand machte eine wegwerfende Bewegung. »Spielt keine Rolle. Hätten Sie sich nicht mit dem Fall beschäftigt, so hätte ich Sie ersucht, es zu tun. Ich möchte Ihre Meinung dazu.«
»Aber warum? Ich bin kein Detektiv ...«
»Sie wissen mehr über das gespeicherte Material als die meisten anderen«, sagte Sorensen. Er schien jetzt beinahe freundlich. War es ein Trick, um seine Beute in Sicherheit zu wiegen? »Sehen Sie, Major Thornberg, dieser Fall hat einige rätselhafte Aspekte.«
Thornberg blieb still. Sein Herz schlug so hart, daß er sich fragte, ob Sorensen es höre.
»Sam Hall ist ein Schatten«, sagte der Fahnder. »Die sorgfältigsten Überprüfungen schließen jede Möglichkeit aus, daß er mit einem anderen Träger dieses Namens identisch ist. Wir haben in Erfahrung gebracht, daß der Name in einem ungezügelten alten Trinklied vorkommt. Ist es eine Koinzidenz, oder regte
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