Das Phantom im Opernhaus
aus der Reserve zu locken. »Man braucht keinen Autopsiebericht, um auf Giftmord zu kommen.«
»Sicher, ja, das ist richtig«, wand sich Jasmin. »Ich habe aufgeschnappt, dass meine Kollegen über eine Zyanidverbindung spekulieren, die Baumann kurz vor seinem Tod verabreicht worden sein soll. Da langt eine winzige Menge, die ihm mit einem Getränk oder einem Snack untergeschoben worden sein, genauso gut aber auch am Filter einer Zigarette geklebt haben könnte. Und ja, es wird schon fleißig nach demjenigen gesucht, der sich als Giftmischer betätigt haben könnte.«
Paul sah sie erwartungsvoll an. »Und?«
»Nichts und. Bei der Suche nach Verdächtigen mit einem Motiv schälten sich zwar auf Anhieb einige vielversprechende Kandidaten heraus, doch für weitere Details ist die Zeit noch nicht reif. Immerhin dürfen die Kollegen die Möglichkeit nicht gänzlich außer Acht lassen, dass dein bedauernswerter Fotografenkollege vielleicht nur ein falsches Medikament eingenommen hat und sich alles doch bloß als ein tragischer Unfall oder sogar Suizid herausstellt.«
An diese Variante mochte Paul nicht glauben. Stattdessen dachte er an die Gesprächsfetzen, die er beim Lauschen an der Garderobentür aufgeschnappt hatte, und erkundigte sich: »Du sprichst von ersten Verdächtigen. Wer denn zum Beispiel?«
»Nach dem, was ich vorhin im Präsidium mitbekommen habe, wollen sich die Kollegen zunächst auf die unmittelbaren Vorgesetzten des Toten konzentrieren. Zwischen Baumann und seinen Chefs hat es in letzter Zeit wohl häufiger gekracht. Es muss dabei heftig zur Sache gegangen sein. Jürgen Klinger, der die Marketingarbeit der Oper verantwortet, hat vor Zeugen mit Baumanns Rausschmiss gedroht.«
»Klinger? Ja, den habe ich schon kennengelernt. Solche Ausbrüche traue ich ihm ohne Weiteres zu.«
»Aber er ist nicht der Einzige. Es gibt da noch einen Regisseur: Ricky Haas. Er ist ein alter Hase im Geschäft. Mit Baumanns Leistungen als Bühnenfotograf war er wohl schon lange nicht mehr zufrieden. Haas unterstellte ihm sogar, seine Inszenierungen bewusst zu sabotieren, um seine Stücke in ein schlechtes Licht zu rücken.«
»Das ist nicht nett, aber noch lange kein Mordmotiv«, meinte Paul.
»Du kennst diese Theaterleute nicht«, hielt Jasmin dagegen. »Die sind fürchterlich impulsiv, theatralisch und manchmal völlig realitätsfremd.«
»Ich weiß ja nicht …« Paul wurde es allmählich heiß. Er sah sich nach der Sanduhr um, die er beim Betreten der Sauna gewendet hatte: noch ungefähr fünf Minuten bis zum Ende des ersten Saunagangs. »Was ist denn mit Baumanns Lebensgefährtin?«, brachte er seine eigene Spur ins Spiel.
Jasmin wiegte den Kopf. »Irena? Eine abgehalfterte Diva mit recht erfolgreicher Vergangenheit, wie man hört. Soll sogar mal an der Mailänder Scala gesungen haben. Meine Kollegen haben sie kurz ins Kreuzverhör genommen. Sie ist nett, aber frustriert, sagen sie. Trinkt ganz gern mal einen Sekt oder auch Stärkeres. Wie die Beziehung der beiden lief, können wir noch nicht beurteilen. Sie war zu aufgewühlt, um bei der ersten Vernehmung alle Fragen beantworten zu können.«
»Bleibt an ihr dran«, riet Paul, um sich mit diesem Tipp für Jasmins Offenheit zu revanchieren.
Ehe diese nachfragen konnte, wurde die Saunatür geöffnet. Im Türrahmen stand eine junge Frau mit weißen Pantoffeln, weißem Bademantel und weißem Haarband im gelockten Haar.
»Hannah?« Paul war zum zweiten Mal an diesem Abend überrascht.
Katinka Blohms Tochter blieb für einige Momente unbewegt im Türrahmen stehen. Ihre Augen wanderten zwischen Paul und Jasmin hin und her. Schließlich ließ sie ihren Bademantel fallen, kickte ihre Schlappen beiseite und trat ein. Sie breitete ihr Handtuch an Pauls freier Seite aus und setzte sich zu ihm. So dicht, dass ihre Schenkel seine berührten. »’n Abend. Störe ich?«
»Nein«, sagten Paul und Jasmin wie aus einem Mund.
»Fein«, sagte Hannah, atmete tief ein und drückte ihren Oberkörper heraus.
Paul dagegen atmete aus und bemühte sich, seine neue Nachbarin nicht zu genau anzusehen.
»Macht ruhig weiter«, meinte Hannah. »Lasst euch von mir nicht stören.«
Jasmin verstand den Wink und griff nach ihrem Tuch. »Ich bin sowieso schon zu lange drin. Macht’s gut«, sagte sie und gingHannah und Paul blieben schweigend zurück. Paul wartete und behielt die Sanduhr im Auge, bis die letzte Minute seines Saunagangs verstrichen war. Erst dann wandte er sich Hannah zu:
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