Das Phantom im Opernhaus
Ich bin neu hier.« Diesmal behielt er zunächst für sich, in welcher Funktion er bei den Städtischen Bühnen angeheuert hatte.
Gleichwohl sah ihn die Frau zweifelnd an. Oder war ihr Blick nur scheu? »Hallo«, sagte sie leise. »Ich bin die Britta. Britta Kistner.«
Dieser Name sagte ihm nichts. Also ließ sich Paul den Milchreis schmecken, bevor er eine Konversation begann. Es war nicht gerade das Niveau der Süßspeisen aus Jan-Patricks Goldenem Ritter, aber wie hieß es doch so schön: Es muss nicht immer Kaviar sein.
Da Paul nicht den gleichen Fehler begehen wollte wie bei seiner ersten Bekanntschaft, legte er sich bei seiner Frage nach dem Beruf nicht von vornherein fest: »Was machen Sie denn am Theater?«
»Singen«, folgte prompt die knappe Antwort. Britta Kistner schenkte Paul ein schiefes Lächeln. »Ich weiß ja nicht, als was Sie hier eingestellt worden sind. Aber mit dem Ensemble sollten Sie sich bald vertraut machen, wenn Sie in keine Fettnäpfchen treten wollen.«
»Entschuldigung«, sagte Paul mit ehrlichem Bedauern. »Ich muss zugeben, dass ich nicht gerade viel Zeit hatte, mich auf mein neues Tätigkeitsfeld einzustimmen.«
»Schwamm drüber. Als was arbeiten Sie denn bei uns?«
Als Paul es ihr sagte, verschwand das kleine Lächeln schlagartig aus ihrem Gesicht. »Ist es nicht ziemlich daneben, den Posten des Bühnenfotografen neu zu besetzen, bevor der Vorgänger unter der Erde ist?«
»Das lag nicht in meinem Ermessen«, antwortete Paul offen. »Ich kann mich nur bemühen, es annähernd so gut zu machen wie Norbert Baumann.«
Paul registrierte, wie sich die Augen der jungen Sängerin weiteten. Sie ging auf Abstand, indem sie ihren Stuhl zurückschob. »Wenn ich Ihnen einen Tipp geben darf: Machen Sie es bloß nicht so wie Baumann.«
Hellhörig geworden, fragte Paul: »Weshalb? Gab es denn Schwierigkeiten mit Baumanns Arbeit?«
Die junge Frau verzog den Mund. »Eher mit Baumanns Person. Er hatte ein ziemlich schroffes Auftreten. Wenn er bei den Proben seine Fotos machte, nahm er keine Rücksicht darauf, dass wir uns gleichzeitig auf unsere Arbeit konzentrieren mussten. Mal frei heraus gesagt: Baumann konnte einen tierisch nerven.«
»Das klingt nicht nach großer Trauer über den Verlust eines geschätzten Kollegen«, tastete Paul sich weiter vor.
»So ist es nun einmal. Ich habe Baumann nie besonders gut leiden können. Trotzdem ist es furchtbar, was ihm zugestoßen ist. Ein schrecklicher Unfall.«
»Das ist gar nicht sicher. Ich habe gehört, dass die Polizei in Richtung Fremdverschulden ermittelt.«
»Ach, ja?« Britta Kistner sah ihn verdutzt und neugierig zugleich an. »Das ist mir neu. Stand das denn schon in der Zeitung?«
»Noch nicht. Die Polizei ist mit Informationen gegenüber der Öffentlichkeit sehr zurückhaltend. Ich weiß es auch nur durch Zufall. Hatte Baumann denn Feinde im Haus?«, schloss Paul sogleich die nächste Frage an, denn nun juckte es ihn ja doch in den Fingern, ein bisschen zu ermitteln.
»Feinde? Nein. Wie gesagt: Er war nicht gerade beliebt. Aber dass ihn jemand umgebracht haben soll, das glaube ich nicht.« Sie brauchte Zeit, um die Neuigkeit zu verdauen. Dann wollte sie wissen: »Warum interessieren Sie sich eigentlich so dafür? Sie kannten Baumann doch gar nicht, oder?«
»Immerhin bin ich sein Nachfolger«, zog sich Paul aus der Affäre.
»Da haben Sie sich was vorgenommen«, meinte Britta Kistner mit offenem Bedauern. »Wir Schauspieler und Sänger sind empfindsame Wesen, sensible Mimosen und nicht einfach im Umgang.«
Paul lachte. »Das haben Sie nett ausgedrückt. Aber keine Sorgen, ich werde damit zurechtkommen. Wie sind Sie denn ins Ensemble gelangt? Direkt von der Schauspielschule oder nach einem Musikstudium? Sie sind ja noch sehr jung …«
»Danke.« Britta Kistner wirkte mit einem Mal unruhig. »So jung bin ich auch nicht mehr. Ich bin Quereinsteigerin.« Mit diesen Worten stand sie auf. »Die Pflicht ruft. Ich muss los. Es war schön, Sie kennenzulernen.« Damit ließ sie Paul zurück. Ebenso einen Teller, der nicht einmal halb leergegessen war.
Paul wollte die letzten Happen seines Milchreises verdrücken, doch Appetit hatte auch er nicht mehr. Ein Blick auf seine Armbanduhr machte ihm klar, dass er keine Zeit hatte, über das kurze Gespräch zu reflektieren. Klinger wartete auf ihn! Also ließ auch er sein Essen stehen und setzte der jungen Sängerin nach. Am Ausgang der Kantine holte er sie ein. »Sorry«, sagte er und
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