Das Phantom im Opernhaus
getragen. »Du bist ein wacher, neugieriger Mensch. Die Unruhe, der Zweifel und das Suchende liegen in deiner Natur – aber all diese Dinge, die dich ausmachen, brauchst du in deiner Ehe mit Katinka nicht abzulegen. Im Gegenteil, Paul! Katinka kennt dich lange genug mit all deinen Ecken und Kanten, um nicht die Illusion zu nähren, dich auf deine alten Tage noch bändigen zu können.«
»Deine Zuversicht in Gottes Ohr«, sagte Paul etwas eingeschnappt.
»Ich meine das durchaus ernst, Paul. Ihr beide seid zwei ausgeprägte Charaktere, jeder auf seine Weise. In eurem jahrelangen Ringen um Lebenserfüllung habt ihr so manches Opfer gebracht. Doch das größte Opfer war es, dass ihr all die Zeit allein gewesen seid. Deshalb mein Rat: Zieh die Sache jetzt durch! Du weißt, dass Katinka die Frau deines Lebens ist. Steh dazu!«
»Das tue ich ja! Zweifle doch nicht permanent an meiner Standfestigkeit, sonst werde ich am Ende wirklich wieder wankelmütig.« Paul war froh, dass sie vor seinem Haus angekommen waren. Auf eine längere Moralpredigt verspürte er keinerlei Lust, obwohl sicherlich viel Wahres und Gutgemeintes in Finks Worten lag. Paul nahm Anlauf, sich zu verabschieden, als ihm eine feine Veränderung in der Mimik des Pfarrers auffiel: Ein düsterer Gedanke schien das gütige Lächeln aus Finks runden Gesicht zu vertreiben. Daraufhin stellte Paul seine eigenen Angelegenheiten hintan und erkundigte sich: »Und was gibt es bei dir? Es ist doch so weit alles klar, will ich hoffen.«
»Ja, ja. Alles bestens.« Fink haderte ganz offensichtlich mit sich selbst, ob er mit dem herausrücken sollte, was ihn plagte. »Es ist nur …«, setzte er an. »Ich habe momentan mit einem etwas ungewöhnlichen beruflichen Problem zu kämpfen.«
»Was denn für ein Problem?« Darunter konnte sich Paul alles Mögliche oder auch gar nichts vorstellen. »Möchtest du darüber reden?«, fragte er.
Fink sah ihn aus seinen großen, leicht hervortretenden Augen unglücklich an. »Das ist es ja gerade. Nur zu gern würde ich darüber sprechen und deine Meinung hören. Aber ich darf nicht.« Der Pfarrer ließ die rechte Hand in seine Tasche gleiten und förderte eine Packung Tabak zutage. Während er begann, sich eine Zigarette zu drehen, erläuterte er: »Ich habe jemandem eine Art Beichte abgenommen.«
»Beichte?« Paul war mehr als überrascht. »Hast du eine Identitätskrise? Du bist bei der evangelischen Kirche angestellt, nicht bei den Katholiken.«
»Ob du es glaubst oder nicht, mein lieber Paul: Die Beichte kennt man auch bei uns, und auch evangelische Schäfchen haben ab und zu das Bedürfnis, sich etwas von der Seele zu reden. Das allein ist nichts Besonderes, ungewöhnlich ist aber, wenn man es in dieser – sagen wir – seelsorgerischen Vertraulichkeit mit einer Straftat zu tun bekommt.«
Paul sah immer noch nicht, wo das Problem lag. »Dann geh zur Polizei und zeig die Sache an, wenn es dich so sehr bedrückt«, schlug er vor.
»Das geht nicht so einfach, wie du es dir vorstellst. Wie du schon sagtest: Ich bin kein katholischer Priester und sitze nicht wöchentlich im Beichtstuhl – sehr wohl habe ich aber die Verpflichtung, das Beichtgeheimnis zu wahren.«
»Aha … – ich wusste nicht, dass so etwas konfessionsübergreifend ist.«
»Im Grunde genommen ist es ähnlich der ärztlichen Schweigepflicht, und ich finde das normalerweise sehr sinnvoll. Aber in diesem Fall …« Ein Faltenteppich legte sich über seine breite Stirn.
»Ich verstehe«, meinte Paul. »Kannst du nicht wenigstens andeuten, worum es geht?«
»Nein«, sagte Fink bedauernd. »Dabei würde ich gerade dir gern mehr darüber verraten.«
»Weshalb ausgerechnet mir?« Das Thema wurde für Paul immer undurchsichtiger.
»Weil …« Der Pfarrer druckste herum. »Nun ja …« Ganz untypisch für ihn, dachte Paul. Schließlich riss Fink sich los, wünschte ihm zerstreut einen schönen Abend und ließ ihn ohne weitere Erklärungen stehen.
Noch während Paul die Stufen zu seinem Loft im Obergeschoss hinaufstieg, wunderte er sich über das seltsame Verhalten seines Freundes. Er kannte Fink als einen Mann der klaren Worte, der ohne Umschweife aussprach, was ihm durch den Kopf ging. Die ungewohnte Erfahrung, das Beichtgeheimnis in einem offenbar sehr heiklen Fall wahren zu müssen, hatte den Armen offensichtlich in eine echte Zwickmühle gebracht. Was Paul am meisten beunruhigte, war die Anspielung darauf, dass Paul selbst in irgendeine Art und Weise in
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