Das Phantom im Opernhaus
vernünftigen Menschen erklären können.
Mit unsicheren Schritten ging er auf den verwaisten Stuhl des Spielleiters zu, ließ sich erschöpft hineinfallen und versenkte seinen Kopf in den Händen.
Er wusste nicht, wie lange er in dieser Pose verharrt hatte, bis ihn Hannah aus seiner Lethargie riss, ganz sicher waren es aber zehn Minuten oder mehr gewesen. »Paul?«, hörte er ihre Stimme, in deren unbekümmerter Fröhlichkeit auch etwas Sorge mitschwang. »Ist alles in Ordnung?«
Paul schaute auf und stellte fest, dass Hannah nicht allein war.
»Schau mal, wen ich kennengelernt habe«, sagte sie stolz.
Britta Kistner nickte ihm freundlich zu. »Wir haben uns auf der Toilette getroffen.«
»Wir standen beide vorm Spiegel, und ich habe sie gleich erkannt und angesprochen«, ergänzte Hannah. »Britta hat gesagt, dass sie mir die Oper zeigt. Du bist also von dieser Bürde befreit, Paul.«
»Das ist … nett.«
Jetzt schien Hannah aufzufallen, wie mitgenommen Paul aussah. »Ist wirklich alles in Ordnung?«, vergewisserte sie sich.
»Nein«, antwortete Paul und rang sich dazu durch, von seinem Beinaheabsturz zu berichten. »Die ganze Anlage muss dringend repariert werden. Das ist ja lebensgefährlich dort oben!«
Hannah und Britta hingen an seinen Lippen und waren zunächst sprachlos. »War es wirklich Hans-Peter, der Sie gerettet hat?«, brach Britta schließlich die Stille.
»Ja«, meinte Paul. »Wer sonst?«
»Aber du hast ihn nicht wirklich erkannt, oder?«, hakte Hannah nach.
»Das nicht. Aber der Mann war von ähnlicher Statur. Schlank, flink und behände.«
»Ja, das trifft auf Hans-Peter zu«, bestätigte Britta.
»Schlank und flink sind aber auch andere«, gab Hannah zu bedenken. »Zum Beispiel dieser Regisseur, von dem du mir erzählt hast.«
»Ricky Haas?«, fragte Paul überrascht. »Der ist zu alt für solch halsbrecherische Aktionen. Außerdem hätte er keinen Grund, nach meiner Rettung unerkannt zu verduften.«
»Hans-Peter auch nicht«, gab Britta zu bedenken.
»Bist du denn überhaupt sicher, dass es ein Mann war, der dich vor dem Absturz bewahrt hat?«, fragte Hannah direkt.
Nein, das war er nicht, dachte Paul und sah sie nachdenklich an. »Ich habe keine Ahnung«, sagte er dann. »Jedenfalls habe ich einen Heidenschreck gekriegt und könnte jetzt einen starken Kaffee vertragen.«
Britta Kistner erbot sich, dem Haustechniker den Schaden zu melden und damit künftigen Unfällen vorzubeugen. Paul nahm dankend an, denn um diesen Part riss er sich nicht – am Ende hätte man ihn noch für das gerissene Seil verantwortlich gemacht. Er zwinkerte Hannah zu. »Lass dir von Britta ruhig alles zeigen. Meine Rolle als Fremdenführer ist für heute beendet.«
14
Als Paul nach einem langen, anstrengenden, im übrigen Verlauf aber wenig ereignisreichen Arbeitstag das Opernhaus verließ und nach Hause ging, sehnte er sich nur noch nach einem gut gekühlten Gutmann Hefeweizen, von dem er hoffte, dass es in seinem Kühlschrank auf ihn wartete.
Er hatte den Weinmarkt fast erreicht, als ihn ein Ruf einholte, der vom Hauptportal der Sebalduskirche her kam. Paul drehte sich um und war erfreut, seinen alten Freund, den Pfarrer Hannes Fink, zu sehen. In herzlicher Verbundenheit umarmten sich die beiden Männer und klopften sich dabei auf die Schultern.
»Paul, meinen Glückwunsch!«, sagte der Pfarrer und verzog seinen Mund samt Schnauzbart zu einem Lächeln. »Du hast dich spät, aber richtig entschieden.«
»Ach, du weißt es auch schon?« Paul fragte sich, wie sich die Nachricht von seinem Heiratsantrag so schnell herumsprechen konnte. Am wahrscheinlichsten war, dass Hannah die Nachricht verbreitete.
»Ich hoffe, eurer klammheimlichen Verlobung wird bald eine kirchliche Trauung unter meinem Segen folgen«, meinte Fink mit seiner brummigen und doch so freundlichen Stimme.
»Eins nach dem anderen«, dämpfte Paul das Tempo.
»Komm!« Fink griff Paul am Ellenbogen. »Ich begleite dich bis zu deiner Wohnung. Ist die Luft nicht herrlich heute Abend?«
»Ja … schon«, stimmte Paul verhalten zu. Denn er musste damit rechnen, dass ihm der Pfarrer nicht so einfach davonkommen lassen, sondern ihm erst einmal auf den Zahn fühlen würde. Denn wenn es darum ging, den Bund fürs Leben zu schließen, durfte sein Rat als Geistlicher nicht fehlen. Das entsprach Finks Selbstverständnis als Seelsorger.
Und schon legte er los. »Du brauchst dich vor dem nächsten Schritt nicht zu fürchten«, sagte er
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