Das Phantom im Opernhaus
die Kritiker waren der Meinung, dass sie nicht im Entferntesten an das große Vorbild Maria Callas herangekommen ist.«
»Das wäre ja auch viel verlangt«, meinte Paul.
»Würde ich genauso sehen. Aber Irena gilt als sehr ehrgeizig. Die Kritiken haben ihr bestimmt nicht gefallen.«
Als Paul seine Gegenleistung für die Klassiknachhilfe erbrachte, blieb ihm noch eine gute Stunde Zeit bis zu seinem nächsten Einsatz als Fotograf. Er führte Hannah durch die nüchternen Flure des Hinterhauses und beschloss, sie zunächst in die Kantine mitzunehmen. Mit etwas Glück würden sie dort die eine oder andere Kandidatin von Hannahs Wunschliste antreffen. Doch weder Irena noch Britta Kistner waren unter den Gästen.
»Versuchen wir es später noch einmal«, meinte Paul. »Ich zeige dir in der Zwischenzeit das Allerheiligste: die Hauptbühne und den Zuschauerraum. Um diese Uhrzeit kannst du dir die Ränge und das Parkett mal bei Putzlicht ansehen. Aber sei nicht überrascht, wenn die besondere Aura ein wenig von ihrem Glanz einbüßt.«
Paul hätte sich seine Bedenken sparen können, denn Hannah war wie ferngelenkt, als sie voller Euphorie durch die menschenleeren Sitzreihen des großen Zuschauerraums ging und ihre Blicke nach links und rechts zu den drei Rängen emporgleiten ließ.
Mehr noch interessierte sie sich aber dafür, wie es hinter dem Vorhang aussah. Paul begleitete sie auf die ebenfalls verwaiste Bühne, erwies sich aber als schlechter Führer, da er die meisten Begrifflichkeiten nicht kannte. Er deutete auf eine Reihe von hoch hängenden Transparenten und Tüchern, die an Seilzügen befestigt waren. »Das sind Teile der Dekoration«, reimte er sich zusammen.
Hannah folgte seinem Blick und schmunzelte. »Das trifft es nicht ganz. Das vordere ist der Prospekt oder auch Hinterhängestück genannt. Dann der Bogen oder Zwischenhängestück. Zuletzt die Soffitte. Sie dient als Deckendekorationsstück, also lagst du nicht ganz daneben.«
Wieder einmal sah Paul seine junge Begleiterin verblüfft an. »Du bist aber auch eine Neunmalkluge«, schalt er sie mit nur teilweise gespieltem Ärger. »Du weißt nicht nur über Opern Bescheid, sondern auch über Theatertechnik – woher denn, zum Kuckuck?«
»Hab’ ich dir doch schon erzählt: Vier Jahre Theater AG im Gymmi«, antwortete sie rotzlöffelig. »Da gab es auch Exkursionen zu den Profibühnen. Stadttheater Fürth, das Nürnberger Schauspielhaus und natürlich die Oper«, und nahtlos ermahnte sie ihn: »Pass bloß auf, dass du nicht in die Versenköffnung fällst!«
Paul blieb augenblicklich stehen. Neben ihm klaffte ein Loch im Boden. Darunter erkannte er eine bewegliche Bodenplatte und hydraulische Systeme. »Danke für die Warnung.«
»Da hat euer Maschinenmeister wohl geschlampt«, meinte Hannah. »Normalerweise sollte so etwas nicht einfach offen stehen.«
Um endlich mal wieder Oberwasser zu gewinnen und Hannah etwas zu erklären, das sie – hoffentlich – noch nicht wusste, konzentrierte sich Paul auf die Leuchtkörper. Denn damit war er als Fotograf ja vertraut. Er zeigte ihr die imposanten Portalscheinwerfer am Ausgang der Vorbühne, dann die berühmten Rampenlichter. Schließlich lenkte er ihren Blick bis ganz nach oben, wo die Horizontbeleuchtung, schwenkbare Spielflächenscheinwerfer und auch die fahrbare Beleuchtungsbrücke untergebracht waren. Da die Dimensionen hier auf der Hauptbühne ungleich größer waren als auf der kleinen Probebühne, konnte Hannah die Anordnung der vielen Lampen und Leuchten vom Boden aus allenfalls erahnen.
Das war etwas unbefriedigend, fand Paul. Umso mehr freute es ihn, dass er Chefbeleuchter Hans-Peter Glück auf der Arbeitsgalerie dicht unter dem Rollenboden entdeckt zu haben glaubte. Ganz sicher war er sich nicht, denn 15 Meter über ihnen war das Licht zu diffus, um mehr als nur Schemen zu erkennen. Doch wer außer Glück sollte sich dort oben herumtreiben?
Paul formte mit beiden Händen einen Trichter vor seinem Mund und rief hinauf: »Hallo! Hans-Peter, ich bin es! Hast du was dagegen, wenn wir zu dir raufkommen?«
Hannah zog Paul am Ärmel. »Lass mal sein, Paul. Das ist mir entschieden zu hoch.«
»Aber …«, setzte Paul enttäuscht an.
»Ist schon okay. Geh ruhig rauf zu deinem Kumpel. Ich muss sowieso mal für kleine Mädchen. Wir treffen uns dann später am Souffleurkasten.« Damit verschwand sie hinter dem Eisernen Vorhang.
Schade, dachte Paul, du verpasst was! Dann musste er sich eben allein
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