Das Phantom im Opernhaus
eine weniger belebte Ecke des Saals. Paul kam ohne Umschweife gleich zur Sache.
Evelyn Glossner hörte ihm aufmerksam zu und stützte ihr Kinn dabei auf ihren gefalteten Händen ab. Als Paul geendet hatte, fragte sie ruhig: »Warum wenden Sie sich damit gerade an mich? Weil ich Psychologin bin? Ich muss Sie enttäuschen: Klinger zählte nicht zu meinen Patienten. Und selbst wenn, dürfte ich darüber nicht mit Ihnen reden.«
»Davon bin ich auch nicht ausgegangen. Aber Sie halten sich hier sehr oft auf, Klinger war Ihnen also kein Unbekannter. Außerdem verfügen Sie schon rein beruflich über eine ausgeprägte Menschenkenntnis. Ich kann mir keine kompetentere Gesprächspartnerin vorstellen.« Er sah sie gewinnend an.
»Danke für die Blumen.« Sie quittierte Pauls Schmeichelei mit einem sonnigen Lächeln. »Sie sind sehr charmant, Herr Flemming. Trotzdem gehört es nicht zu meinen Gepflogenheiten, mich über andere Leute auszulassen. Zumal Herr Klinger nicht gerade ein Befürworter meiner Tätigkeit hier gewesen ist. Ich möchte über niemanden schlecht reden, der sich nicht mehr wehren kann.«
»Das verlange ich ja gar nicht von Ihnen«, beeilte sich Paul zu versichern. »Alles, was ich mir erhoffe, sind ein paar Anhaltspunkte.«
»Nun …« Evelyn Glossner schien sich tatsächlich erweichen zu lassen. »Sie sind ja kein offizieller Ermittler und machen auf mich einen vertrauenswürdigen Eindruck. Was genau wollen Sie denn über Klinger wissen?«
Paul erkannte seine Chance und legte los: »Wie er war! Ich meine, was für ein Mensch er wirklich gewesen ist. Nach außen hin trat er ja ungemein selbstsicher, beinahe großspurig auf und gab sich als Platzhirsch aus.«
»Ja, das klassische Alphatier. Das haben Sie gut erkannt«, bestätigte die Psychologin Pauls Beobachtungen. »Ich vermute jedoch, dass dieses Bild nur eine Fassade war. Oder sagen wir besser: eine Maske. Ist Ihnen aufgefallen, wie viel und wie laut er geredet hat? Durch die quantitative Fülle seiner Worte und eine überzogene Körpersprache in Mimik und Gestik versuchte er meiner Meinung nach, mangelnde Kompetenzen zu überspielen und von seinem an sich schwach ausgeprägten Ego abzulenken.« Sie lehnte sich leicht im Stuhl zurück, als sie weiter ausführte: »Wie Sie wissen, hat er hier im Haus eine führende Position angestrebt. Aber ich denke, dass die Fußstapfen, in die er treten wollte, einige Nummern zu groß für ihn waren. Je deutlicher er das erkannte, desto ungestümer wurde sein Verhalten.«
»Sie meinen, er war im Grunde genommen nur ein Blender?«, folgerte Paul.
Evelyn Glossner winkte ab. »Wie schon gesagt: Klinger zählte nicht zu meinen Patienten, ich kann also nur Vermutungen anstellen.«
Paul wollte die Psychologin nicht so schnell aus der Diskussion entlassen: »Und der Mord an ihm? Wie sehen Sie den? Könnte Klinger mit seinem aggressiven Machtstreben einen Konkurrenten so weit getrieben haben, dass …« Paul beließ es bei der Andeutung.
Seine Gesprächspartnerin wirkte zurückhaltend, als sie sagte: »Vorstellbar ist es. Klingers aufgesetzt selbstgefälliges Gehabe könnte auf den einen oder anderen provozierend gewirkt und gewisse Gegenmechanismen ausgelöst haben.«
»So, wie Sie das sagen, halten Sie diese Möglichkeit wohl nicht für wahrscheinlich.«
»Doch, durchaus. Aber man sollte niemals nur eingleisig denken, wenn es um ein so komplexes Gebilde wie die menschliche Psyche geht. Möglicherweise war eine ganz andere Seite seines Charakters ausschlaggebend für den Täter. Eine Seite, die wir gar nicht kennen.«
Paul kamen die Andeutungen von Chefbeleuchter Hans-Peter Glück in den Sinn, und er fragte aufs Geratewohl: »Können Sie sich vorstellen, dass Klingers amouröse Abenteuer etwas damit zu tun hatten?«
»Oje«, sagte Evelyn Glossner mit offenem Erstaunen. »Das ist wirklich mal ein ganz neuer Aspekt. Dass Norbert Baumann Derartiges nachgesagt wurde, ist mir bekannt. Aber Jürgen Klinger? Wer hat Sie denn auf diese Fährte gebracht?« Paul wog ab, ob ein Grund dafür vorlag, seine Quelle geheim zu halten, doch er entschied sich dafür, den Namen preiszugeben. Evelyn Glossners Reaktion bestand aus einem weiteren »Oje!« Dann sah sie Paul aufmerksam an und sagte: »Es mag durchaus sein, dass Glück aus seiner Vogelperspektive einige interessante Beobachtungen gemacht hat. Vielleicht hat er daraus sogar die richtigen Schlüsse gezogen.«
»Aber?«, fragte Paul, der die Vorbehalte der Psychologin
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