Das Phantom im Opernhaus
die Sache verstrickt zu sein schien. Wie sonst sollte er Finks letzten Satz deuten, dass er ausgerechnet Paul ins Vertrauen ziehen wollte und nicht durfte?
Zu seiner Erleichterung fand Paul tatsächlich noch eine Flasche Weizenbier im Kühlschrank und goss sie sich voller Wonne ein. Während er die letzten Hefereste vom Flaschenboden schwenkte und sie ins Glas fließen ließ, fuhr er den Computer hoch. Routinemäßig rief er seine Emails ab. Dann ließ er sich durchs Internet treiben, bestellte zwei neue Bücher, Krimis diesmal, die er wie üblich parallel lesen wollte. Einer der beiden Romane – mit dem Titel Stadtgrenze- spielte sogar in Nürnberg. Der andere mit dem vielversprechenden Titel Tartufo mortale präsentierte ein neugieriges Trüffelschwein als tierischen Ermittler. Während Paul die Kurzinhalte las, war ihm plötzlich wieder sein eigener Krimi gegenwärtig – die Morde im Opernhaus.
Paul dachte an die beiden Toten und die dürftigen Spuren, die der Täter hinterlassen hatte. Etwas Gegenteiliges hatte er jedenfalls noch nicht gehört. Er dachte auch an sein beklemmendes Erlebnis im Kellergang und an seinen Beinaheabsturz vom Bühnenboden. Falls es jedes Mal ein und dieselbe Person gewesen war, die ihre Finger im Spiel gehabt hatte, musste sie sich verdammt gut in dem Gebäude auskennen. Viel besser als die meisten Angestellten und erst recht besser als der Neuling Paul! Wenn er also mit diesem Phantom mithalten und ihm auf die Schliche kommen wollte, musste er eine Menge Hausaufgaben machen.
Noch während er darüber nachdachte, flitzten seine Finger über die Tastatur und fütterten die Suchmaschine mit Stichwörtern wie »Oper«, »Nürnberg«, »Historie« und etlichen weiteren Suchbegriffen.
Paul konzentrierte sich zunächst auf die harten Fakten. Das Nürnberger Opernhaus war 1906 von Heinrich Seeling erbaut worden. 1935 ließen die Nazis das Gebäude umgestalten. Dann kamen Krieg und Zerstörung. Erst in den 90er-Jahren wurde der Originalzustand annähernd wieder erreicht. Dank des Vereins »Freunde der Staatsoper« und nicht zuletzt durch zahlfreudige Sponsoren wie Eduard Ascherl konnten viele verlorengegangene Details des ursprünglichen Entwurfs wiederhergestellt werden.
In seinem Inneren war und blieb das Opernhaus jedoch ein Labyrinth. Hinter den Kulissen des mondänen Kulturpalastes war gestückelt, improvisiert und teilweise auch gepfuscht worden. Noch während der Bauphase konzipierte man fleißig um und versetzte sogar Mauern. Räume wurden vergrößert, Flure umgeleitet. Am Ende blickte niemand mehr durch.
Paul las mit besonderem Interesse einen älteren TÜV-Bericht, der ganz der im Untergrund schlummernden Bühnentechnik gewidmet war. Die gesamte Maschinerie stammte noch aus dem Jahr 1905. Das Nürnberger Werk der M.A.N. hatte das monumentale Eisengerüst für die Zugeinrichtungen der Kulissen geliefert, die Paul vor wenigen Stunden um die Ohren geflogen waren. Die mittlerweile museumsreife Anlage, die die Bretterwelt von der Unterbühne bis zum 25 Meter hohen Schnürboden zusammenhielt, galt in ihrem Kern als robust und nahezu unzerstörbar. Aber die Seilzüge waren für relativ leichte Prospekt-Bühnenbilder konzipiert. Jedes der alten Seile war nur für Gewichte bis zu 220 Kilogramm ausgelegt. Um sperrigere Illusionen aus Holz, Pappe, Styropor und Leinwand bewegen zu können, mussten deshalb die Lasten auf mehrere Zugseile verteilt werden – eine Lösung, die ein hohes Unfallrisiko mit sich brachte.
Paul löste seinen Blick von dem Bildschirm und ging in sich. Konnte das, was er heute auf dem Schnürboden erlebt hatte, tatsächlich nur die Folge einer falsch berechneten Bühnenaufhängung gewesen sein? Er versenkte sich wieder in die Internetquelle und stieß auf die bemerkenswerte Aussage eines Experten, eines Diplom-Ingenieurs und Gutachters: »Es dürfte vor allem dem geradezu vorbildlich sicherheitsgerechten Verhalten der Beschäftigten zu danken sein, dass sich das Unfallgeschehen in bemerkenswerten Grenzen hält. Es kann jedoch niemand garantieren, dass das so bleibt.« Gleich im Anschluss hatte jemand den Kommentar eines »erfahrenen Schnürboden-Hasen« eingestellt, der lautete: »Wenn ein Sänger einen Ton schmeißt, steht’s in der Kritik. Wenn aber wir etwas sausen ließen, wär’s eine Story für den Polizeibericht.«
Entweder, so folgerte Paul aus seinen Recherchen, war alles nur ein Zufall. Oder aber er hatte es mit einem Gegner zu tun, der erstens den
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