Das Phantom im Opernhaus
herausgelassen wurde. Rechnet man dann ungefähr eine Stunde zurück, kommt man etwa auf den Zeitpunkt seines Eintreffens in meinem Restaurant.«
Paul nannte ihm den Tag des Mordes an Norbert Baumann, woraufhin Jan-Patrick sie für einige Minuten in der Küche allein ließ. Als er mit einem kleinen Bündel Papierstreifen zurückkam, runzelte er bekümmert die Stirn. »Seht ihr«, sagte er und breitete die Bons auf einer blankgeputzten Arbeitsplatte aus. »Das sind die Abrechnungen seiner Mittagessen in diesem Monat. Da ist so einiges zusammengekommen. Meistens haben er und seine Begleiterin sich für den Businesslunch entschieden. Der hat zwei Gänge, also sind sie immer zwischen 45 und 60 Minuten geblieben. Aber am besagten Datum steht nur ein Mineralwasser auf der Rechnung.«
»Nur ein Wasser? Nichts zu essen?«, hakte Blohfeld nach.
»Nein. Ich habe eben kurz mit Marien gesprochen, die an dem Tag die Bestellungen aufgenommen hatte. Sie meint sich zu erinnern, dass Haas allein kam, was ja ganz unüblich war, und dann schon nach kurzer Zeit wieder ging. Dem Kassenbon zufolge hat er um 11:42 Uhr bezahlt, wobei er laut Marien erst gegen halb zwölf gekommen war. Ein sehr kurzer Aufenthalt.«
»In der Tat!« Blohfeld kniff konzentriert die Augen zusammen. »Der Mord an Klinger wurde zwischen 12 und 12:30 Uhr verübt, sagen meine Quellen bei der Polizei. Vom Goldenen Ritter biszum Opernhaus braucht man zu Fuß 15 bis 20 Minuten.«
»Das bedeutet, dass Haas in der fraglichen Zeit theoretisch doch am Tatort gewesen sein könnte«, folgerte Paul.
»Oder ihn hat das schlechte Gewissen befallen, und er ist heimgerannt zu seiner Frau, was ihm das Alibi sichern würde«, wandte Jan-Patrick ein.
»Das glaubst du doch wohl selbst nicht«, meinte Paul und fragte: »Darf ich mal dein Telefon benutzen?«
»Ja, sicher«, sagte Jan-Patrick. »Aber was wird aus deinem Essen?«
»Manchmal muss man Opfer bringen. Auch wenn es schwer fällt.«
Vom Büro seines Freundes aus rief er im Oberlandesgericht an. Er ließ sich von Katinkas Vorzimmerdame durchstellen, wobei er geflissentlich den Hinweis ignorierte, dass die Oberstaatsanwältin eigentlich nicht gestört werden wollte. »Sagen Sie ihr einfach, dass ich sie dringend sprechen muss!«
»Paul?« Katinkas Stimme klang sachlich, beinahe abweisend. »Was gibt es denn so Wichtiges?«
»Ihr müsst euch Ricky Haas noch einmal vorknöpfen. Wie es aussieht, hat er euch an der Nase herumgeführt. Er war zur Mittagszeit am Tag, als Baumann starb, gar nicht zu Hause.«
»Was erzählst du da?« Katinka klang nicht gerade begeistert über diese Enthüllung. Paul holte weiter aus, berichtete ihr von Haas’ Mittagspausen in Begleitung, von Marlens Erinnerungen und dem Nachweis mit den Kassenbons. Er sprach sogar eine Vermutung aus, warum Haas’ Frau bei der Falschaussage mitgespielt haben könnte: »Vielleicht hat sie ihrem Mann im Gegenzug das Versprechen abgenommen, dass er seine Affären beendet.« Aber auch mit dieser wohlüberlegten Vorlage rang er Katinka kein Lob für seine großartige Hilfe ab – im Gegenteil:
»Damit erweitert sich der Kreis der Verdächtigen immer mehr, statt sich um den wahren Mörder zu schließen«, sagte sie wenig erbaut.
»Wie meinst du das?«
»Du bist nicht der Einzige, der mir einen möglichen Täter auf dem Silbertablett serviert. Vorhin erhielt ich einen Anruf einer Kellnerin aus dem Tucherbräu, der Gaststätte gegenüber dem Opernhaus. Sie konnte beobachten, wie Eduard Ascherl am Todestag von Norbert Baumann an ihrem Wirtshaus vorbei und auf die Oper zugegangen ist – kurz vor der Tat. Und ehe du fragst: Nein, Ascherl hatte dort keinen offiziellen Termin.«
»Ach … – aber das kann Zufall sein«, meinte Paul, fühlte sich gleichzeitig jedoch in seinem Anfangsverdacht gegen den Mäzen bestätigt.
»Würdest du das auch sagen, wenn du wüsstest, dass ihn ein weiterer Zeuge auch am Todestag von Jürgen Klinger in der Nähe der Oper beobachtet haben will? Wiederum ungefähr zur Tatzeit?«
»Nein.« Paul war bass erstaunt. Dann aber befielen ihn Zweifel: »Ist es nicht eine seltsame Vorstellung, dass ein hoch angesehener Geschäftsmann wie Ascherl am helllichten Tag in die Oper marschiert, dort kaltblütig mordet und dann in aller Öffentlichkeit den Rückweg antritt, als wäre es das Normalste auf der Welt?«
»Die raffiniertesten Mörder schlüpfen uns gerade deshalb durch die Maschen, weil sie die Nerven behalten und sich nichts anmerken
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