Das Phantom im Opernhaus
Nachmittag nach getaner Arbeit heimkam, stolperte er in seinem Flur über einen Wäschekorb. Die Mokkabraune, das lebensgroße Poster eines Aktmodels am Flurende, schien ihm dabei mit gewisser Schadenfreude zuzusehen. Als er sich aufgerappelt hatte und den Inhalt des Korbes inspizierte, fand er ein gutes Dutzend akkurat gebügelter Hemden vor. Obendrauf lag ein Notizzettel, der eine Grußbotschaft in krakeliger Schrift enthielt:
»Lieber Paul, du warst leider nicht daheim. Ich bringe dir deine Hemden. Habe mir die restlichen Hemden und deine beiden feinen Hosen zusammengesucht und mitgenommen. Sind nächste Woche fertig. Grüße und Küsse, Mutti. P.S. : Vati meint, du sollst endlich heiraten, damit das Bügeln für mich ein Ende hat. Aber ich mache es gern. «
Paul schob den Korb unausgeräumt in die Besenkammer, als er einen schmalen Metallbügel unter dem obersten Hemd aufblitzen sah. Er bückte sich danach und hielt die Lesebrille seiner Mutter in der Hand. Missmutig betrachtete er das Gestell mit den dicken Gläsern. Hertha war ohne diese Sehhilfe nicht in der Lage, ihre geliebten Reader’s Digest-Magazine zu lesen. Das bedeutete, dass sie sich zu Hause in Herzogenaurach den Wolf suchen oder aber schon bald wieder hier auftauchen würde. Paul beschloss zähneknirschend, den lieben Sohn zu geben. Er schnappte sich die Schlüssel seines Renaults.
Eine knappe Stunde später ließ er sich in der Hollywoodschaukel seiner Eltern die Sonne dieses schönen Spätnachmittags ins Gesicht scheinen und balancierte auf den Oberschenkel einen Teller mit dem dritten Stück von Herthas köstlichem Pflaumenkuchen.
Der Ausflug zu seinen Eltern war Paul besser bekommen als erwartet. Er fühlte sich entspannt und wähnte sich hier draußen in Herzogenaurach weit genug entfernt von allen Problemen und Problemchen, die ihn in Nürnberg drückten. Außerdem bot dieser Besuch die perfekte Gelegenheit, seine Eltern in seine Heiratspläne einzuweihen.
Er hörte die Schritte seiner Mutter näherkommen und wollte gerade ein viertes Stück Kuchen dankend ablehnen, als er zögerte: Herthas kleine dunkle Augen, die unter ihrer tiefschwarz gefärbten Dauerwellenpracht beinahe untergingen, sahen ihn ernst an.
»Hermann möchte dich sprechen«, sagte sie, und es klang, als dulde dieser Wunsch keinen Aufschub.
Pauls Vater saß trotz des schönen Wetters im Wohnzimmer, wo der Sportkanal im Dauerbetrieb lief. Sein Gesicht wirkte teilnahmslos, und er machte keine Anstalten, sich seinem Sohn zuzuwenden, als Paul sich neben ihn auf das schwarze Kunstledersofa setzte. »Und, Vati, was gibt’s?«, fragte er.
Anstelle seines Vaters ergriff wieder Hertha das Wort: »Ich war beim Metzger in der Hauptstraße. Da stand ich mit der Frau Sachter an, das ist die Mutter von Sarah, mit der du mal gegangen bist. Und sie ist auch eine Bekannte von den Brunners.«
»Ja. Schön«, sagte Paul, der nicht ahnen konnte, worauf seine Mutter hinaus wollte.
Hertha holte Luft und erklärte: »Die Helga Brunner hält sich ja für was Besseres, weil ihr Mann mal ein großes Tier bei Siemens war. Sie kauft ihre Mode grundsätzlich nicht im Ort. Sondern fährt mindestens alle zwei Wochen nach Nürnberg – zum Shoppen.« Das letzte Wort klang aus Herthas Mund äußerst despektierlich.
»Schön«, wiederholte sich Paul. »Soll sie doch.«
»Die Helga Brunner hat in Nürnberg eine alte Freundin getroffen. Und die erzählte ihr etwas, das sie dann brühwarm an Frau Sachter weitergab. Kannst du dir vorstellen, um was es ging?«
Nun erkannte Paul, woher der Wind wehte. Schuldbewusst suchte er nach einer Begründung dafür, dass er seine Eltern nicht früher ins Vertrauen gezogen hatte. Doch er fand keine und ging stattdessen in die Offensive: »Ja, es stimmt!«, sagte er feierlich. »Katinka und ich werden heiraten!«
Hertha sah ihn an, als hätte sie das Gerücht beim Metzger für eine Ente gehalten, und wirkte für den Moment völlig überrascht. Hermann reagierte gar nicht.
»Und? Was sagt ihr dazu?«, fragte Paul strahlend.
Hertha schien die Erkenntnis, dass ihr Sohn tatsächlich ernst machen wollte, schnell zu verarbeiten. Trocken wie üblich sagte sie: »Du solltest dir die Haare färben.«
»Bitte?«, fragte Paul, dessen Lächeln einer betretenen Miene wich.
»Wenn ich die Braut wäre, würde ich mir keinen Bräutigam mit grauen Schläfen wünschen.« Als Paul sie völlig verdattert ansah, meinte sie: »Deine Katinka tönt sich ihre Haare doch auch.
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