Das Phantom im Opernhaus
deutlich spürte.
»Aber …«, sie wirkte ein wenig enttäuscht, »… in diesem Fall hätte ich Ihnen mehr Menschenkenntnis zugetraut, Herr Flemming. Hans-Peter Glück ist berüchtigt für sein flinkes Mundwerk und seine starken Sprüche – oder sollte ich sagen: üble Nachrede? Davon abgesehen ist er selbst kein unbeschriebenes Blatt …« Sie unterbrach sich, als sie Britta Kistner in der Nähe ihres Tisches erblickte. »Britta!«, rief sie und winkte die junge Sängerin heran. Kaum war Britta angekommen, stand die Psychologin auf und bot ihr ihren Stuhl an. »Euer neuer Fotograf würde gern über die Vorlieben des Chefbeleuchters aufgeklärt werden. Ich glaube, das ist ein Thema, über das ihr euch besser intern unterhaltet. Ich als Außenstehende werde mich an dieser Stelle ausklinken.« Mit einem jovialen Zwinkern verabschiedete sie sich. »Ade!«
Britta saß Paul leicht befangen gegenüber. Sie legte ihre zartblassen Hände auf den Tisch; die Fingernägel waren wieder feuerrot lackiert. »Also, ich …«
»Eine blöde Situation, was?« Paul versuchte, das ihr aufgedrückte Gespräch zu entkrampfen. »Sie kommen nichtsahnend vorbei und dann das. Aber, Britta, keine Sorge: Sie müssen mir natürlich gar nichts sagen.«
Die junge Frau wirkte nun etwas erleichtert. »Verstehe. Aber eigentlich ist es ja kein Geheimnis. Früher oder später werden Sie es sowieso erfahren.« Paul beugte sich neugierig vor, als Britta mit leiser Stimme berichtete: »Hans-Peter ist seit Jahren ein heimlicher Verehrer von Irena. Er vergöttert sie und holt bei ihren Auftritten alles aus seinem Lampenpark heraus, was nur geht. Auf Baumann war er entsprechend schlecht zu sprechen, weil der seine Angebetete nicht gut behandelte.«
Jetzt war es an Paul, laut »Oje!« zu sagen. Ein neuer Verdächtiger mit handfestem Tatmotiv!
Britta sah sich um und vergewisserte sich, dass ihr auch wirklich niemand anderes zuhörte. »Auch mit Klinger gab es ziemlich häufig Zoff. Hans-Peter gehört nämlich zur Haas-Fraktion und ließ Klinger bei jeder Gelegenheit auflaufen. Paula – also, Paula Dorfner, die Maskenbildnerin – hat mir von einem üblen Streit zwischen den beiden erzählt.«
Damit steckte Oberbeleuchter Glück ganz schön tief drin in der Sache, bilanzierte Paul. In was für einen Moloch aus Lügen und Leidenschaften war er hier geraten? An potenziellen Mördern für ihre Bluttaten mangelte es jedenfalls nicht: Haas, Mäzen Ascherl, Irena selbst und nun Hans im Glück … Gleichwohl bemühte er sich um ein unbefangenes Lächeln, als er sich zum Gehen erhob. »Danke, Britta, Sie haben mir sehr geholfen.«
»Null problemo. Grüßen Sie Hannah von mir! Sie kann gern mal wieder vorbeischauen. Jederzeit.«
16
Das Alibi von Ricky Haas platzte inmitten einer kulinarischen Orgie, wie sie nur Jan-Patrick inszenieren konnte: Der Küchenchef hatte vor Pauls erwartungsvollen Augen ein Arrangement entstehen lassen wie von einem alten Meister gemalt: Links eine gerade Linie aus frittierten Selleriewürfeln und Miniaturquadern aus Quittengelee. Rechts eine Nocke aus Selleriemousse, davor ein Strudel mit Quittenkompott und einem Milch-Mandel-Schaumhäubchen. In der Mitte vier konzentrische Tranchen vom Hirschkalbsrücken auf Steinpilzgemüse an karamellisiertem Rotkohl.
Bevor Paul zu essen und schwelgen begann, konnte er sich eine ketzerische Frage nicht verkneifen: »Hat deine Wald- und Wiesenküche heute geschlossen, und es darf wieder fürstlich getafelt werden?«
Jan-Patrick musste sich erst einen Moment sammeln, ehe er antwortete: »Ganz im Gegenteil, Paul, ganz im Gegenteil: Das, was du hier siehst, riechst und gleich kosten darfst, ist die Essenz meiner Kräuterküche. Hier ist kein einziges Gewürz aus der Dose zum Einsatz gekommen. Bitte: Nimm deine Gabel und probier, dann merkst du, wie meine Wald- und Wiesenküche die authentischen Geschmacksnoten unterstreicht, verblüffende Aromen hervorzaubert und kontrastreiche Konsistenzen erzeugt.«
»Entweder, Sie sind bereit, Jan-Patrick auf seiner kulinarisch-spirituellen Reise zu folgen, oder Sie empfinden das alles – genau wie ich – als überteuerten, prätentiösen Mist«, mischte sich ungebeten die Stimme von Victor Blohfeld ein. Mit einem nachlässigen »Ich darf doch?« setzte sich der Reporter neben Paul, schnupperte an dessen Teller und fragte den Wirt: »Was können Sie denn einem Gourmetbanausen wie mir anbieten?«
Jan-Patrick ließ seine Abneigung gegenüber dem Reporter
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