Das Phantom von Manhattan - Roman
»Fahren Sie mit dem Aufzug in den achtunddreißigsten Stock hinauf.«
Das tun wir. Seid ihr schon mal im achtunddreißigsten
Stock gewesen, Jungs? Nein? Nun, das ist ein Erlebnis. Man ist in einem Käfig eingesperrt; um einen herum rattert die Maschinerie, und man fährt endlos himmelwärts. Und der kleine Kasten schwankt dabei. Irgendwann steht der Käfig, und ich öffne das Scherengitter, und wir steigen aus. Dort erwartet uns ein Mann - die Stimme, mit der ich gesprochen habe. »Ich bin Mr. Darius«, sagt er, »folgen Sie mir.«
Er führt uns in einen langen holzgetäfelten Raum mit einem Konferenztisch, auf dem schwere silberne Schreibgarnituren stehen. Dies ist offenbar der Raum, in dem Deals abgeschlossen, Konkurrenten zerschmettert, Schwache aufgekauft, Millionen verdient werden. Ein eleganter, im Stil der Alten Welt eingerichteter Raum. An den Wänden hängen Ölgemälde, und mir fällt eines an der Rückwand auf, das höher als die anderen hängt. Ein Mann mit breitkrempigem Hut, Schnurrbart, Spitzenkragen, lächelnd. »Darf ich den Brief sehen?« fragt Darius und fixiert mich mit starrem Blick wie eine Kobra die Bisamratte. Okay, ich habe noch keine Kobra oder Bisamratte gesehen, aber ich kann sie mir vorstellen. Ich nicke Dufour zu, und er legt den Brief auf die polierte Tischplatte zwischen sich und Darius. Dieser Mann hat etwas Merkwürdiges an sich, bei dem sich mir alle Nackenhaare sträuben. Er besteht nur aus Schwarz und Weiß: schwarzer Gehrock, weißes Hemd, schwarze Krawatte. Gesicht weiß wie das Hemd, schmal, hager. Schwarzes Haar und pechschwarze Augen, die glitzern, aber nicht blinzeln. Habe ich Kobra gesagt? Kobra ist eine prima Beschreibung.
Hört jetzt gut zu, Jungs, denn was jetzt kommt, ist wichtig. Ich habe das Bedürfnis nach einer Zigarette, also zünde ich mir eine an. Aber das ist schlecht, ein ausgesprochener Fehler. Sowie das Zündholz aufflammt, schießt Darius auf mich zu. »Kein offenes Feuer, wenn ich bitten darf«, herrscht er mich an. »Machen Sie Ihre Zigarette aus!«
Also, ich stehe noch immer am Ende des Tischs in der Nähe der Ecktür. Hinter mir an der Wand steht ein halbmondförmiger Tisch mit einer Silberschale, die ein Aschenbecher sein könnte. Ich trete darauf zu, um die Kippe auszudrücken. Hinter der Schale steht ein großes Silbertablett schräg an die Wand gelehnt. Während ich meine Zigarette ausdrücke, sehe ich in das Tablett, das blank wie ein Spiegel ist. An der Rückwand des Raums hat das hoch aufgehängte Porträt des lächelnden Mannes sich verändert. Unter dem breitkrempigen Hut ist ein Gesicht zu erkennen, ja. Aber es ist eine Visage, bei deren Anblick selbst die Rough Riders aus ihren Sätteln kippen würden.
Unter dem Hut sehe ich eine Art Maske, die drei Viertel der Fläche bedeckt, die ein Gesicht einnehmen würde. Darunter ist eben noch die Hälfte eines schiefen, schmallippigen Mundes zu erkennen. Und unter der Maske hervor starren mich zwei Augen durchdringend an. Ich stoße einen Schrei aus, fahre herum und zeige auf das Bild an der Wand. »Wer zum Teufel ist das?« rufe ich erschrocken.
» Der lachende Kavalier von Frans Hals«, antwortet Darius. »Leider nicht das Original, das in London hängt, aber eine sehr gute Kopie.«
Und tatsächlich ist der lachende Kerl wieder da - mit Schnurrbart, Spitzenkragen und allem. Aber ich bin nicht verrückt, ich weiß, was ich gesehen habe. Jedenfalls streckt Darius eine Hand aus und nimmt den Brief an sich. »Ich kann Ihnen versichern«, sagt er, »daß Mr. Mühlheim diesen Brief binnen einer Stunde erhält.« Dann teilt er Dufour das gleiche auf französisch mit. Der Anwalt nickt. Wenn er zufrieden ist, kann ich nichts weiter unternehmen. Wir wenden uns ab, um zur Tür zu gehen. Bevor ich sie erreiche, fragt Darius mit rasierklingenscharfer Stimme: »Übrigens, Mr. Bloom, von welcher Zeitung kommen Sie gleich wieder?« » New York American «, murmle ich. Dann sind wir draußen. Wieder unten auf der Straße, in einer Droschke, zum Broadway zurück. Ich setze den Frenchie ab, wo er aussteigen will, und fahre in die Redaktion. Ich hab’ eine Story, stimmt’s?
Falsch. Der Nachtredakteur sieht auf und sagt: »Cholly, du bist besoffen.« »Ich bin waaas? Ich hab’ keinen Tropfen angerührt«, sage ich. Ich erzähle ihm meine Geschichte. Von Anfang bis Ende. Eine tolle Story, was? Aber er will nichts davon wissen. »Okay«, sagt er, »du hast einen französischen Anwalt kennengelernt, der einen
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