Das Prinzip Terz
Rentnern oder Hausfrauen ab, bevor er die Straße überquerte. Die Türklingeln waren verrostet und abgegriffen, die Namensschilder teilweise nicht ausgefüllt, unleserlich, vielfach überklebt.
Sechzehn Namen. Zweite Reihe, zweites von unten: Sandel. Terz drückte. Irgendwo in der Straße bellte ein Hund. Nach einer Minute drückte er länger. Nach einer weiteren Minute probierte Terz Sandels Schlüssel. Der zweite passte.
Das Treppenhaus roch nach Lebertran und Reinigungsmittel. Im zweiten Stock fand er Sandels Tür. Mit einem leisen Klacken gab das Schloss nach. Terz stülpte den Jackettärmel über die Hand, öffnete schnell, trat in einen lichtlosen Vorraum und schloss die Tür hinter sich. Sofort biss scharfer Gestank in seine Nase. Die Augen mussten sich erst an das Zwielicht gewöhnen.
Beige Textiltapeten, die schon einige Jahrzehnte gesehen hatten, und ein wohl ebenso alter brauner Teppichboden. Zwischen Eingang und den drei anderen Türen war ein Trampelpfad abgetreten. Auf einer Bambusgarderobe hingen Jacken, darunter standen drei Paar abgelaufener Schuhe.
Terz zog Latexhandschuhe über. Hinter der ersten Tür fand er ein winziges Bad mit Dusche, die zweite führte zu einem Abstellraum. Durch die dritte gelangte er in den Wohnraum. Die einzige Dekoration bildete ein Theaterposter mit eingerollten Kanten, als wolle es von der Wand fliehen. In der Küchenecke reihten sich leere Wein- und Schnapsflaschen. Davor hockte eine Katze, deren auffällig runder Kopf ihn an jemanden erinnerte. Er kam nicht dahinter, an wen. Ihr Schwanz wellte hin und her. Lautlos kam sie näher und musterte ihn, ihre Nase ertastete Terz’ Geruch.
»Oje, wer bist denn du? Für dich müssen wir wohl ein neues Zuhause finden. Du hast sicher Hunger.« Er füllte die beiden leeren Näpfe neben dem Kühlschrank mit Trockenfutter aus einer Box auf der Anrichte und mit Wasser. Schnurrend machte sich das Tier darüber her.
Im untersten Fach des Bücherregals fand Terz drei Dutzend Ringmappen, die sich als Sandels Manuskripte entpuppten. Hier war während der letzten Jahre wohl auch Sandels »Sicher Sein« verstaubt, das nun in Terz’ unterster Schreibtischlade lag.
Er studierte den Titel »An diesem schönen Tag, Gernot Sandel 1989«, als er hörte, wie ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde. Von seinem Platz sah er direkt auf die Wohnungstür. Der Schlüssel wurde einmal gedreht. Noch einmal. Lautlos trat Terz zwei Schritte zurück, damit er nicht sofort gesehen wurde. Gleichzeitig suchten seine Augen fieberhaft nach einem Versteck oder Fluchtweg. Doch Sandels Wohnungstür ging nicht auf. Und die Katze fraß ungerührt. Es musste der Nachbar gewesen sein.
Schnell prüfte Terz alle Ringbücher. Eine bunte Mischung aus Sachthemen, Romanen und Lyrik. Er fand kein weiteres Exemplar von »Sicher Sein«. Sorgfältig stellte er alles zurück.
Wie ein vorsintflutliches Tier ragte die altmodische Schreibmaschine auf dem Tisch aus einem Berg von Manuskripten, Exposés, Rechnungen, Werbematerial, Katalogen und Zeitschriften. Unter dem Tisch entdeckte er einen dicken Ordner mit Ablehnungsbriefen. Der erste stammte von 1981. Wie alt war Sandel eigentlich gewesen? Terz fand achtundzwanzig Briefe zu »Sicher Sein« und steckte sie ein. Daneben entdeckte er verschlossene Briefkuverts. Ein Adressvergleich ergab, dass Sandel sie an sich selbst geschickt hatte. Dazu erkannte Terz auf ihnen handschriftlich hinzugefügt die Titel der Ringbücher wieder. Sandel hatte eine Kopie der Manuskripte an sich geschickt, um anhand des Poststempels beweisen zu können, wann er sie versandt hatte. Copyrightschutz für Arme. Terz öffnete das Kuvert zu »Sicher Sein«, es war das richtige, und er steckte es zu den Ablehnungsbriefen.
Die Katze hatte ihren Napf geleert, strich um das Tischbein und beobachtete ihn. Da fiel es ihm ein: Zio Vito! Ihr Gesicht ähnelte verblüffend Elenas Onkel Vittorio!
»Na, bist du satt, Vito?«
Bei einer gründlichen Durchsicht von Sandels übrigen Papieren fand er keine weiteren Exemplare von »Sicher Sein« oder Hinweise auf dessen Existenz.
Sandels Dokumente trugen das Geburtsdatum 1959, bei zwei Sterbeurkunden durfte es sich um die seiner Eltern handeln. Weder Hochzeits- noch Scheidungspapiere, und offenbar würde auch niemand Sandel vermissen. Terz achtete darauf, alles so zu hinterlassen, wie er es gefunden hatte. Vito lag neben den leeren Näpfen und schnurrte zufrieden.
»Und was machen wir mit dir?«
Terz füllte die
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