Das Prometheus Projekt
dem Nichts erwuchs.
Miriam warf einen Blick auf den herbstlichen Garten tief unter ihr. Die alten Buchen, Eichen und Erlen begannen sich auf den Winter vorzubereiten. Ihr Laubkleid hatte sich bereits rot und gelb verfärbt. Der stürmische Wind zupfte immer mehr Blätter von den Ästen und wehte sie davon. Miriam fragte sich, ob die Pflanzen es wohl spürten, wenn sie ihr Laub verloren. Ob sie Schmerzen empfanden, ob sie in der schneidend kalten Winterluft froren?
SolcheDinge brachten sie ihr nicht bei. Darüber stand nichts in der Bibel. Und die Heilige Schrift war das einzige Buch, das Miriam lesen durfte, von den religiösen Traktaten und Erbauungsschriften abgesehen.
In der Bibel wurde nichts berichtet über die Welt jenseits dieser Mauern. Miriam wusste natürlich, dass sie da war. Es gab unzählige Menschen hinter den Grenzen des alten Internatsgebäudes, die lebten und liebten, lachten und weinten, hofften oder verzweifelt waren. Miriam hätte sie gerne kennen gelernt.
Josua war schon oft dort draußen gewesen. Darum beneidete sie Josua Kazaan. Er hatte Missionen erfüllt, für ihre Sache geworben und Aufträge für den Täufer erledigt, einmal war er sogar im Heiligen Land gewesen. Wenn er wiederkam, führte ihn sein Weg sofort zu Miriam. Er berichtete ihr begeistert über die Welt, in der gewesen war, welche Menschen er getroffen und was er dort getan hatte.
In den letzten Wochen hatte sich Josua verändert. Hatte er nach seinen ersten Reisen noch von einer verdorbenen, verlorenen Welt gesprochen und den Täufer in höchsten Tönen als ihren Retter gepriesen, so hatte er zuletzt einsilbig und mit zornigen Worten vom Täufer geredet, dem Sektenoberhaupt der Johannes-Jünger.
Miriam hatte nicht verstanden, was in ihm vorging, aber sie hatte den Wandel gespürt, den Josua durchlief. Josua war voller Zweifel, wie sie selbst. Und während Miriam nur ahnte, dass ihr behütetes Leben in Wahrheit das einer Gefangenen war, hatte Josua die Welt hinter beiden Seiten der Fensterscheibe gesehen.
Miriam hatte das Gefühl, dass er sich ihr anvertrauen, ihretwas immens Wichtiges mitteilen wollte, etwas, was ihr beider Leben verändern würde. Aber in den letzten beiden Wochen, bevor er endgültig verschwand, hatte er Miriam nicht mehr an seinen Gedanken und Gefühlen teilhaben lassen. Das verwirrte die junge Frau zutiefst. Zunächst gab sie sich selbst die Schuld für ihre Entfremdung. Doch obwohl sie sich nächtelang den Kopf darüber zerbrach, was sie getan habe könnte, um ihn zu verletzen, kam sie nicht hinter Josuas Geheimnis.
Und nun war Josua fort. Vor drei Monaten war er verschwunden. Er hatte etwas von einer Reise in die Schweiz erzählt, einem Land, so unvorstellbar weit entfernt, dass Miriam nur verschwommene Vorstellungen davon hatte.
Und seitdem war er nicht zurückgekehrt. Josua war stets nur drei oder vier Tage fort geblieben, höchstens eine Woche lang. Doch diesmal waren bereits elf Wochen ohne ein Lebenszeichen von ihm vergangen. Miriam befürchtete, er könnte vielleicht niemals wiederkehren. Konnte es sein, dass er den Johannes-Jüngern für immer den Rücken zugewandt hatte?
Miriam hatte von anderen gehört, die die Sekte verlassen hatten, aber das waren stets Fremde gewesen, oder es hatte sich nur um ein Gerücht gehandelt.
Natürlich hätte auch Miriam gehen können, niemand hielt sie mit Gewalt fest. Und selbst dann hätte sie eine Möglichkeit gefunden, zu fliehen. Aber wo sollte sie hin? Genau wie Josua war sie mit ihren Eltern im Kindesalter in die Sekte eingetreten. Acht Wochen danach waren Vater und Mutter bei einem Unfall ums Leben gekommen. Und da sie auch vor ihrem Eintritt in die Sekte sehr zurückgezogen gelebt undso gut wie keinerlei Bekanntschaften gepflegt hatten, hatte niemand Miriam vermisst. Seit zwölf Jahren lebte Miriam nun bei Melanie und ihren Eltern, die zur selben Zeit der Sekte beigetreten waren.
Seufzend stellte sie den Eimer ab und begann das nächste Fenster zu putzen. In der ewig gleichen Routine begann sie zuerst die innere Seite mit Seifenlauge abzuwaschen und die überschüssigen Wassertropfen sauber mit einem Gummischieber zu entfernen. Danach legte sie den Kipphebel um und öffnete den Rahmen, um die Außenseite zu reinigen. Ihre Gedanken schweiften ab und kehrten zu Josua zurück. Was er wohl in der Schweiz tat? Mit welchem Auftrag war er unterwegs? Warum blieb er über Monate fort? Miriam verlor sich in Tagträumen und malte sich aus, wie es wäre, wenn
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