Das Prometheus Projekt
würde gerne die Privaträume des Pfarrers sehen“, sagte er.
Die Haushälterin rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl herum. „Dürfen Sie das denn?“, fragte sie unsicher.
Sehner nickte. „Ich muss mir ein Bild von Wildenberg machen. Und Sie wollen doch sicher auch, dass der Mörder gefasst wird.“
„Aber ja, natürlich. Mein Gott, so ein Wahnsinniger.“
Sie stand auf, räumte die Tassen vom Tisch und trug sie hinüber zur Spüle. Dann ging sie in den Flur und nahm dort einen Schlüsselbund vom Haken.
„Ich habe seine Wohnung verschlossen gehalten seit jener Nacht“, erklärte sie. „Es kam mir irgendwie richtig vor.“
Sehner streckte die Hand nach dem Schlüssel aus. „Sie haben sicher noch in der Küche zu tun“, sagte er. Sie zog die Mundwinkel nach unten, erwiderte aber nichts und drückte ihm den Schlüssel in die Hand. Sehner blickte ihr nach, wie sie Richtung Küche verschwand.
Dann schloss er die Wohnungstür auf und betrat die privaten Räume des Pfarrers. Alles sah sauber und aufgeräumt aus, auch wenn sich in den letzten Tagen eine dünne Staubschicht über alle Möbelstücke gelegt hatte. Die Wohnung war klein und zweckmäßig eingerichtet und wirkte mehr wie eine Ferienwohnung, in der man vorübergehend zu Gast ist, als eine ständige Bleibe. Es gab ein Wohnzimmer, ein kleines Schlafzimmer und eine winzige Teeküche. Neben dem Schlafzimmer lag noch ein schmales Zimmer mit Blick auf den Garten. Wildenberg hatte den Raum als Arbeitszimmer genutzt. An den Wänden zogen sich Regale mit allerlei Büchern entlang. Sehner überflog die Titel auf den Buchrücken, es handeltesich ausschließlich um religiöse Themen: Kommentare und Auslegungen der Bibel, Bücher zur Kirchenlehre und zum Priestertum. Ganz oben fand er eine Reihe abgegriffener Traktate über Dämonologie, Teufelsaustreibung und Hexenglauben. Sehner zog ein dünnes Buch heraus und blätterte darin. Es war krudes Zeug, zum Teil in Latein geschrieben. Er stellte das Buch zurück ins Regal.
Der Kommissar setzte sich auf den abgewetzten Schreibtischstuhl und ließ die Atmosphäre des Zimmers auf sich wirken. Der Raum atmete den Muff vergangener Jahrhunderte und roch nach starrköpfigem Fundamentalismus. Wildenberg schien in der Tat nahezu besessen von seiner Arbeit gewesen zu sein.
Die Schreibtischplatte war leer. Sehner zog die Schubladen der Reihe nach auf, fand aber wenig Aussagekräftiges. In der untersten Lade stieß er auf ein Prospekt. Es war ein Faltblatt der ,Johannes-Jünger’. Er erinnerte sich vage, den Namen dieser Sekte schon einmal gehört zu haben.
Sehner lehnte sich zurück und las die Werbeschrift durch. Vom nahen Ende der Zeiten, der Verderbtheit der modernen Welt und von Umkehr zu Sühne und Buße war die Rede. Die Sekte warnte ausdrücklich vor dem Technikwahn, der sich immer mehr ausbreite. Wenn man dem Prospekt glauben schenkte, war der einzige Weg zur Rettung die Mitgliedschaft in der Sekte der Johannes-Jünger. Sehner stutzte. Das Wort Seele kam auffallend häufig vor, was aber eigentlich kein Wunder war, wenn man die Urheber der Schrift in Betracht zog. Trotzdem war es eine Spur.
Auf dem letzten Blatt war eine Adresse angegeben. Der Sitz derSekte lag ganz in der Nähe. Sehner steckte das Faltblatt ein und verließ nachdenklich Wildenbergs Wohnung. Auf dem Weg zur Haustür begegnete ihm die Haushälterin. „Wissen Sie, mir ist der Name wieder eingefallen“, sagte sie eifrig. „Der hässliche Mann, er hieß Gideon!“
21 Haus ohne Türen
21
Haus ohne Türen
Miriam wischte mit einem Gummischieber die letzten Wassertropfen von der Glasscheibe und suchte die glänzende Fensterscheibe nach einem Fleck ab, den sie übersehen haben könnte. Wenn die Seelenhüterin mit ihrer Arbeit nicht zufrieden war, bedeutete das den Verlust des winzigen Stücks Freiheit am Ende des Tages, oder sogar Schmerzen, körperliche oder psychische. Wahrscheinlich erwartete sie eine subtile Form seelischer Grausamkeit, was weitaus schwerer wog als eine schmerzende Handfläche.
Sie trat einen Schritt zurück und prüfte ihre Arbeit. Die Glasscheibe war sauber. Das Mädchen hob den schweren Putzeimer und schleppte ihn den Gang entlang zum nächsten Fenster. Sie arbeitete bereits seit dem frühen Morgen und hatte doch erst einen kleinen Teil der endlosen Korridore hinter sich gelassen. Manchmal erschien es ihr, als ob in jenem Moment, in dem sie mit einem Fenster fertig war, am anderen Ende des Flures ein neues aus
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