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Das Prometheus Projekt

Das Prometheus Projekt

Titel: Das Prometheus Projekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker C Dützer
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Teer. Eine Zeitlang spielte sie mit dem Gedanken, ihre wenigen Sachen zusammenzupacken und einfach durch das Tor zu gehen, fort von hier, aber es blieb ein Wunsch. Niemand hatte sie je auf eine solche Situation vorbereitet.
    Wenig später lag sie auf ihrem Bett und dämmerte einem Tagtraum entgegen, in dem sie entschlossen und mutig die Sekte verließ. Doch als sie durch das Tor am Ende der Auffahrt trat, prallte sie gegen eine unsichtbare Mauer. So sehr sie auch dagegen anrannte, sie vermochte den unheimlichen Bannkreis des Täufers nicht zu durchbrechen. Mit einem leisen Schrei schreckte sie aus dem Traum hoch.
    Das Quietschen der Zimmertür hatte sie aus ihrem Schlummer geweckt. Melanie stand vor dem Bett. Sie legte sich zu ihr und kuschelte sich in Miriams Armbeuge.
    „Was hast du?“, fragte Miriam leise.
    Melanie drehte sich um und legte den Zeigefinger an die Lippen.
    „Er kann uns doch nicht hören“, sagte Miriam. Melanie schüttelte den Kopf und legte die Hand auf den Mund. Dann holte einen Schreibblock aus der Schublade. Eilig kritzelte sie Buchstaben auf das Papier und hielt Miriam dann den Block hin.
    „ Er kann uns immer hören! “
    Miriamzog ärgerlich die blonden Brauen zusammen. „Nein!“, sagte sie wütend. Und zugleich beschlich sie die Ahnung, dass Melanie Recht hatte. Miriam war nicht so weltfremd, dass sie nicht gewusst hätte, was ein Mikrofon war. Vielleicht vermutete Melanie, dass der Täufer sie mit Gottes Ohren wahrnehmen konnte, aber Miriam wusste es besser. Spätestens seit sie den Computer im Zimmer des Täufers entdeckt hatte, war sie sicher, dass der Sektenführer viel wirkungsvollere Mittel zur Überwachung einsetzte als Aberglauben.
    Miriam nahm ihrer Freundin den Kugelschreiber ab und schrieb: „Warum darf niemand mit mir reden?“
    „Du sollst in dich gehen, bis du soweit bist, die Weisheit in den Entscheidungen des Täufers zu erkennen.“
    „Er will, dass ich Gideon zum Mann nehme“, schrieb Miriam.
    Melanie verzog den Mund, als hätte sie verdorbene Milch getrunken.
    Miriam schrieb einen Satz auf das Papier.
    „Ich werde gehen!“, las Melanie. Sie riss erschrocken die Augen auf und schüttelte den Kopf. Tränen liefen über ihr Gesicht.
     
    Am nächsten Morgen fühlte sich Miriam krank. Dabei war krank nicht das richtige Wort, um das Gefühl zu beschreiben. Sie war müde und antriebslos, und ihre Glieder schienen mit Blei gefüllt zu sein. Es fiel ihr unendlich schwer, einen Grund zu finden, aufzustehen. Als sie im Bad stand und in den Spiegel schaute, sah sie ihr eigenes Gesicht hinter einem grauen Nebel verschwimmen. Ihr war schwindelig.
    Sieverrichtete ihre Morgentoilette und ging dann zusammen mit Melanie und ihren Eltern zum Speisesaal. Als sie am Tisch saß, rätselte sie, wie sie dort hingekommen war. Bei allem, was sie tat, empfand sie eine sonderbare Teilnahmslosigkeit. Immer wieder versuchte sie, den Nebel in ihrem Kopf zu vertreiben, aber er kehrte jedes Mal sofort zurück, so sehr sie sich auch bemühte. Es war, als wolle man das Wasser ins Meer zurückschieben.
    Es fiel ihr schwer, sich längere Zeit zu konzentrieren. Die Menschen um sie herum erschienen ihr wie in Watte gepackt. Das sorglose Geplapper der anderen drang wie durch einen Filter an ihre Ohren, der alle hohen Töne aussortierte. Der Tag wurde dumpf und farblos.
    Als Miriam im dritten Stock eines der Fenster öffnete, um mit ihrer Arbeit zu beginnen – heute musste sie die Fenster des Korridors putzen, der zum Zimmer des Täufers führte – fühlte sie sich besser. Die Müdigkeit und der graue Schleier vor ihren Augen waren gewichen, dennoch blieb eine ungewohnte Gleichgültigkeit in ihr zurück.
    Es war ein strahlender Herbsttag. Nach dem frischen Morgen schien die Vormittagssonne warm vom wolkenlosen Himmel.
    „Hi!“, sagte eine Stimme. Miriam brauchte einen langen, trägen Moment, bis sie Andi entdeckte. Er hielt eine Farbrolle in der Hand und blickte sie lächelnd an. Seine tiefbraune Haut war über und über mit weißen Farbsprenkeln bedeckt.
    „Hallo“, antwortete Miriam. Sie wischte sich mit der Hand über die Augen, um die Schläfrigkeit zu vertreiben. Andi runzelte die Stirn. „Was ist los mit dir?“
    „Ich weiß nicht. Ich fühle mich nicht wohl heute Morgen.“ Sie senkte den Kopf. „Es tut mir Leid, dass ich nicht gekommen bin.“
    Andi nickte. „Ich habe mir schon gedacht, dass sie dich nicht gehen lassen.“
    „Nein, so war es nicht“, erwiderte Miriam hastig.

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