Das Prometheus Projekt
Mädchen von etwas sechs Jahren. Die Berührung löste keine Erinnerungen aus. Es war ein seltsames Gefühl, den eigenen Nachnamen zu lesen und damit keinerlei Empfindungen zu verbinden.
„Ist er das? Josua Kazaan?“, fragte Andi leise. Miriam presste den Ausweis an sich und trat zu ihm an den Computer. Andi hatte eine Textdatei aufgerufen. Er scrollte mit der Maus nach oben und zeigte Miriam ein Bild. Es zeigte einen jungenMann von etwa fünfundzwanzig Jahren mit blondem Haar und kantigem Gesicht. Seine Stirn wölbte sich wie ein Knochenkamm über die Augenpartie.
„Das ist Josua! Was ist das?“, fragte sie und zeigte auf ein Icon. Andi öffnete eine Textdatei mit dem Namen Kazaan. Es war ein detaillierter Lebenslauf. Miriam begann zu lesen und vergaß alles um sich herum. Was dort stand, war entsetzlich und traurig zugleich. Sie hätte niemals vermutet, welcher Mensch hinter Josua steckte. Hier fand sie endlich die Erklärungen für die vielen sonderbare Dinge, die ihr an ihm aufgefallen waren. Erschrocken wandte sie sich ab. „Ich will das nicht lesen“, sagte sie.
Andi studierte den Text unter dem Foto. „Dein Freund ist in der Schweiz, in Lausanne.“ Andi las weiter. „Letztes Jahr hat er in Israel als Grabungshelfer an einer Ausgrabung teilgenommen. Hast du gewusst, dass Josua außerdem Physik und Informatik studiert hat?“
Miriam schüttelte den Kopf, was einen neuen Schwindelanfall auslöste. „Er muss ein echtes Universalgenie sein“, meinte Andi bewundernd.
„Sagen dir die Namen irgendwas? Kennst du einen von ihnen?“ Miriam stützte sich auf Andis Schulter. Er genoss ihre Berührung.
Sie überflog die Namen: Dr. Alfred Hussek, Dr. Heiner Brandt und andere. Sie hatte noch nie von ihnen gehört. Der Name Brad Wilson tauchte mehrfach auf.
„Was ist das Prometheus-Projekt?“, fragte Andi. Miriam wusste es nicht. „Dein Freund Josua hat offenbar daran mitgearbeitet.“
Miriam schreckte hoch. Hatte sie Schritte auf dem Gang gehört? „Wir sollten uns beeilen“, sagte sie.
Andi nickte, steckte einen USB-Stick in den Fronteingang und begann ein Backup der Festplatte zu machen.
In der Ferne schlug eine Tür zu. „Wir müssen hier raus“, drängte Miriam ihn. Es dauerte noch zehn Sekunden, bis der Kopiervorgang beendet war. Endlich zog Andi den Stick ab und fuhr den Rechner herunter. Als er die Tür hinter sich schloss, näherten sich Schritte. Miriam zog ihn in eine kleine Kammer am Ende des Flures, in der es nach Salmiakgeist und Essigreiniger roch. Andi drückte sich dicht an Miriam und atmete den sauberen Duft ihres Haars ein. Jedes andere Mädchen hätte er jetzt geküsst. Aber Miriam machte ihn seltsam befangen, weil sie auf sonderbare Weise einzigartig war.
Sie spähten durch den Türspalt. Eine schlanke Gestalt näherte sich dem Zimmer des Täufers. Vor dem offenen Fenster im Korridor blieb sie einen Moment lang stehen und blickte sich nach allen Seiten um. Dann schloss sie das Fenster, öffnete die Tür und verschwand in dem Raum dahinter.
„Ist er das?“, fragte Andi flüsternd. Miriam nickte.
„Du musst in dein Zimmer zurück.“ Er drückte ihr den USB-Stick in die Hand. „Pass gut darauf auf. Am besten trage ihn immer bei dir. Darauf sind alle Daten aus dem Computer dieses Rattenfängers.“
Lautlos öffnete er die Tür und schlich über den dunklen Gang. „Vergiss nicht, das Fenster hinter mir zu schließen.“
Einen Augenblick blieb Andy unentschlossen auf dem Baugerüst stehen. Dann drehte er sich noch einmal um und gab Miriam einen flüchtigen Kuss. Kurz darauf war er in der Nacht verschwunden.
Miriamschloss das Fenster und lief zu ihrer Wohnung zurück. Den Stick presste sie wie einen kostbaren Diamanten an sich. Noch immer schmeckte sie Andis Lippen auf ihren.
Am nächsten Morgen erwachte Miriam mit Kopfschmerzen. Sie fühlte sich schwach und krank. Melanies Eltern kümmerten sich besorgt um sie und versprachen, für sie zu beten. Mehr schien ihnen nicht einzufallen.
Miriam verbrachte den Tag in einem Dämmerzustand aus Schlaf und Gleichgültigkeit. Gegen Abend überredete Melanie sie, zum Essen mit in den Speisesaal zu kommen. Miriam hatte keinen Appetit, aber sie zwang sich dennoch, etwas zu essen.
„Iß. Es wird dir gut tun.“ Mit diesen Worten stellte ihr der Täufer persönlich den verhassten Schokoladenpudding hin. Widerwillig nahm sie den gläsernen Puddingteller in die Hand. Plötzlich entglitt ihr die Schale und fiel klirrend zu Boden.
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