Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Puppenzimmer - Roman

Das Puppenzimmer - Roman

Titel: Das Puppenzimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maja Ilisch
Vom Netzwerk:
nicht wecken. Sie zahnt gerade, und es ist immer schwer, sie wieder zum Schlafen zu bringen.«
    »Bitte!«, rief Miss Marmon. »Lassen Sie mich rein, ich bitte Sie! Ich bin die Mutter! Ich muss mein Kind sehen, Sie haben mich schon so oft vertröstet!«
    »Wie Sie wollen«, sagte Mrs. Harding und seufzte. »Warten Sie hier, ich hole sie.«
    Ich sah die Erleichterung in Miss Marmons Gesicht, und die Härte in Mrs. Hardings. Es dauerte eine Weile, bis die ältere Frau zurückkehrte, auf ihrem Arm ein Säugling, ein kleines Mädchen, das kaum die Augen offen halten konnte vor Müdigkeit.
    »Da«, sagte Mrs. Harding. »Ich habe sie geweckt. Sind Sie nun zufrieden?«
    Aber Miss Marmon entglitten die Gesichtszüge. Was eben noch Freude war, verwandelte sich in Verwunderung, Entsetzen, Zorn, Angst. »Das ist sie nicht! Das ist nicht meine Tochter!«
    »Wie kommen Sie denn darauf?«, fragte Mrs. Harding ungerührt. »Sie ist ein ganzes Stück gewachsen, seit sie bei mir ist. Ich versorge sie gut.«
    »Das ist nicht meine Tochter!«, schrie Miss Marmon. »Meine Tochter hat ein Muttermal, da, auf ihrer rechten Wange. Sie kann gewachsen sein in der Zeit, aber das Muttermal verschwindet doch nicht einfach so! Das ist nicht meine Tochter! Was haben Sie mit meiner Tochter gemacht?«
    Ich erfuhr die Antwort nicht. Ich erwachte, schweißgebadet wie beim letzten Mal und doch froh, dass mich mein Traum nicht noch einmal das hatte durchleben lassen, was ich am Feenfeuer getan hatte. Ich wusste jetzt, dass Mrs. Harding mir nicht das fürsorgliche Heim geboten hätte, das sie versprochen hatte; ich ahnte, dass schreckliche Dinge hinter dieser Tür vorgefallen sein mussten, und ich erinnerte mich wieder an den Traum, den ich gehabt hatte, als ich zum ersten Mal die Puppen in ihrer wahren Gestalt sah. Plötzlich fügte sich ein Stein zum anderen. Irgendwo mussten all diese Seelen einmal hergekommen sein … Aber alles, was ich hatte, war das Gesicht von Mrs. Harding, eingefroren mit einem falschen Lächeln und harten Linien um den Mund und ihren kalten, grausamen Augen. Wenn ich nur gewusst hätte, wo ich dieses Gesicht schon einmal gesehen hatte, auch wenn es vielleicht nur flüchtig war …
    Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden, und wenn ich es nicht tat, würde ich für den Rest der Nacht keine Ruhe finden. Sie war niemand, den ich in St. Margaret’s getroffen haben konnte, und sie war auch niemand hier im Haus. Und doch hatte ich sie hier gesehen, erst vor kurzem … Ich nahm meine Kerze und schlich mich hinunter in den verborgenen Flur. Es war an der Zeit, mir die Fotos von der alten Miss Lavender anzusehen.
    Ich trat so vorsichtig und leise auf, dass noch nicht einmal ich das Geräusch meiner Füße auf den Fliesen hören konnte, aber die Kälte des Bodens zog durch meinen ganzen Körper, vertraut und feindlich. Ich musste mich konzentrieren, um die unsichtbare Tür zu finden, aber da war sie, als hätte sie nur auf mich gewartet, und so gut, wie sie versteckt war, brauchte sie nicht abgeschlossen zu sein. Und ich behielt recht; sie ließ sich ganz einfach öffnen. Meine Kerze leuchtete in den Flur, und da waren sie, die Bilder an den Wänden, aber ich hatte nur Augen für ein einziges von ihnen – ein großes gerahmtes Porträt einer alten Dame. Das Bild war bestimmt so groß wie ich, keine Photographie, sondern ein Gemälde. Unten war ein kleines Messingschild angebracht, darauf ein Name in verschnörkelten Buchstaben: » Lavender « . Aber die Augen, die mich aus dem Bild anblickten, groß und fast schwarz über dem schmallippigen Mund, waren die von Mrs. Harding.
    Ich stand wie erstarrt, meine bloßen Füße festgefroren am Boden, und fragte mich, wie um alles in der Welt ich ein so großes Bild nur hatte übersehen können – und als ich begriff, warum das sein konnte, wachte ich wirklich auf.
    Ich lag in meinem Bett, nassgeschwitzt von oben bis unten, und zwickte mich – weniger, weil ich hoffte, dann endgültig aufzuwachen, aber weil ich wusste, dass ich das in einem Traum nicht gekonnt hätte. Diesmal war ich wirklich wach, und was mich umtrieb, fast noch mehr als mein schlechtes Gewissen, war jetzt die Frage, woher mir dieses Gesicht in Wirklichkeit bekannt vorkam. Ich hätte immer noch hinuntergehen können und mir die Bilder in dem geheimen Flur ansehen können, aber ich entschied mich dagegen.
    Wäre die Lösung tatsächlich da unten auf einem Bild zu finden gewesen, hätte ich es nicht träumen müssen.

Weitere Kostenlose Bücher