Das Puppenzimmer - Roman
kann etwas, das du nicht kannst, und wenn du wissen willst, warum wir so mächtig sind, das ist es.« Sie beugte sich dicht zu mir herüber und flüsterte mir ins Ohr: »Wir besitzen die Gabe des Vergessens.« Etwas lauter fuhr sie fort: »An was wir uns nicht erinnern wollen, das vergessen wir. Es kann niemals kommen und uns heimsuchen, wenn wir es nicht selbst dazu einladen. Unsterblich zu sein wäre unerträglich, wenn wir uns an jede Beleidigung, jeden Fehlgriff, jede Schuld erinnern müssten, nicht wahr? Wenn wir glücklich sein wollen, sind wir glücklich. Es gibt kein schöneres Leben als das einer Fee, und du kannst eines haben …«
Ich stand auf. »Rufus hat es schon versucht, und Violet auch«, sagte ich. »Aber das weißt du bereits. Ihr versucht es alle, ihr preist mir euer Leben an wie sauer Bier, aber wenn es wirklich so großartig wäre, eine Fee zu sein, dann hättet ihr das nicht nötig. In Wirklichkeit geht es doch gar nicht darum, ob ich glücklich bin oder nicht. Ihr wollt nur, dass ich noch mehr Traumseide für euch spinne, weil ihr das selbst nicht könnt, und weil ihr wisst, dass ich das, solange ich ein Mensch bin, nie wieder tun werde.«
Blanche schüttelte den Kopf, und ihre großen Augen waren so traurig, wie sie es nur irgendwie sein konnten bei einem Geschöpf, das keine Seele besaß. »Was Violet oder Rufus denken, ist mir egal«, sagte sie – sie klang verletzt, wirklich, doch ich musste mich deswegen nicht schlecht fühlen, in drei Minuten hatte sie es wieder vergessen. »Aber ich weiß doch, wenn es dir schlechtgeht, und ich mag das Gefühl nicht. Ich will, dass du glücklich bist, wirklich.« Ein boshaftes Blitzen trat in ihre Augen. »Und was die Seide angeht, da nimmst du dich und deinen sogenannten freien Willen zu wichtig. Wenn du nicht spuren willst, dann zwingt Rufus dich eben. Und es gibt nichts, was du dagegen tun kannst.« Sie lachte, selbst dann noch, als ich aus dem Zimmer floh und die Tür hinter mir zuwarf.
Endlich. Endlich war ich allein. Endlich konnte ich zu meinen Puppen. Ich rannte, dass mir selbst die verzauberten Lakaien verwundert hinterherblickten. Als die Tür des Zimmers hinter mir zufiel, fühlte ich mich endlich wieder, als ob ich in meinem eigenen Leben war, als ob ich dort angekommen wäre, wo ich hingehörte – den Puppen konnte egal sein, ob ich eine Fee war oder ein Mensch, solange ich für sie da war.
»Ich bin auf eurer Seite«, sagte ich in den Raum hinein. »Ich werde euch nicht im Stich lassen, ich werde nicht zulassen, dass euch jemand tötet, keinen von euch, und ich werde nicht eher ruhen, als bis ich weiß, wie ich euch freilassen kann.« Die Puppen schwiegen, aber ich bildete mir ein, sie schwiegen zustimmend. Ich konnte nicht sagen, welches von den Schicksalen, das sie erwartete, nun schlimmer war: Die einen wurden getötet, was sicherlich schrecklich war, doch dann war es vorüber. Aber die anderen, die sich so sehr nach einem neuen Leben sehnten, einem eigenen, und dann am Ende doch wieder in einen Körper eingesperrt waren, der ihnen nicht gehörte und nicht gehorchte, und das für die Ewigkeit eines Feenlebens – war das nicht noch viel schrecklicher?
Aber diese Seelen blieben am Leben, und einen Weg, sie zu befreien, konnte ich später immer noch finden. Doch die anderen, die sterben sollten, sollten das bald. Nachdem ich solch eine prachtvolle Spule voll Traumseide abgeliefert hatte, würde Violet nicht lange auf die nächste warten wollen, während ich mich noch fragte, was sie wohl damit umspinnen wollten. Ich würde es genauso wenig erfahren wie eine Antwort auf die Frage, an wen die nächste Seele, die heranreifte, gegeben werden sollte, und ob der oder die dann auch in Hollyhock auftauchte und ein Mitglied der Familie spielte. Ich sah die Puppen auf der Vitrine, ihre starren Augen, hinter denen der Hass funkelte, ihre kleinen Arme nach mir ausgestreckt … Vier Stück waren es, und auch wenn er sie selbst nicht berühren konnte, wollte, würde, Rufus wusste doch, dass es jetzt noch drei waren. Aber hatte er sich auch ihr Aussehen gemerkt?
Ich fühlte mich, als ob ich etwas Verbotenes tat, als ich auf die Zehenspitzen ging und versuchte, die Puppen herunterzuholen. Ich erwischte eine beim Fuß, die beiden anderen waren so weit nach hinten gerutscht, dass ich meinen Stuhl zu Hilfe nehmen musste, aber endlich saßen sie alle drei auf dem Sofa, friedlich und mit porzellanenem Lächeln, als ob sie kein Wässerchen trüben
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