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Das Puppenzimmer - Roman

Das Puppenzimmer - Roman

Titel: Das Puppenzimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maja Ilisch
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Idee kommt, nachts einen Apfel zu mopsen oder ein Stück Speck. Hältst du es bis morgen durch? Wann hast du zuletzt was gegessen?«
    »Ich hatte Frühstück«, sagte ich und hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen, dass ich bei den Herrschaften hatte sitzen dürfen. »Und morgen bekomme ich wieder welches. So lange halte ich das schon noch aus.« Nach einem ganzen Tag voll harter Arbeit hätte ich mir das bestimmt nicht erlauben können, aber mit dem bisschen Spazierengehen und Lesen durfte ich mich eigentlich nicht beschweren.
    »Wenigstens lachst du jetzt wieder«, erwiderte Alan. »Siehst du, hier im Haus brauchst du nicht zu weinen, so schlimm ist es wirklich nicht. Und wenn noch mal was ist, dann kommst du zu mir, oder geh zu Janet, wir sind geduldige Zuhörer.«
    »Wer ist denn Janet?«, fragte ich und fühlte mich blöd, auch wenn niemand nach zwei Tagen erwarten konnte, dass ich alle Personen hier im Haus mit Namen kannte.
    »Janet? Oh, das ist die Spülmagd. Du kennst sie schon, denke ich, sie hat ganz begeistert von dir erzählt, und von deinem schönen Kleid.«
    »Ist das Lucy?«, fragte ich vorsichtig.
    »Lucy, genau. Aber ich darf sie Janet nennen, wenn niemand es mitbekommt von denen da oben. Ist immerhin ihr richtiger Name.«
    »Janet«, wiederholte ich. Man musste Rufus und Violet nicht verstehen. Vielleicht fanden sie Lucy einfach schöner. »Ich bleibe jetzt bei Florence. Ist auch nicht falscher als mein alter Name, den hat sich auch nur unsere Vorsteherin ausgedacht, glaube ich.«
    »Ist auch ein schöner Name«, sagte Alan, und langsam fiel mir auf, dass seine Hand immer noch auf meinem Knie lag, obwohl ich nicht mehr weinte und nicht länger getröstet werden musste. »Bei mir ist das einfach, ich war immer nur Alan, und ich bleibe immer nur Alan. Ich hab noch nicht mal einen Nachnamen, aber eh ich mal Butler werde, brauch ich auch keinen, und bis dahin kann ich mir so viele ausdenken, wie ich will.« Er drückte mein Knie etwas. »Und jetzt – alles wieder gut?«
    »Alles gut«, sagte ich, und es stimmte. »Solange ich jetzt nicht gleich in Mr. Molyneux reinlaufe und er sieht, dass ich geweint habe …«
    »Oh, das wirst du nicht«, sagte Alan und richtete sich auf, wobei er seinen schlaksigen Körper auseinanderfaltete wie einen Zollstock. »Er ist heute nach London gefahren, ich hab geholfen, die Kutsche anzuschirren. Vor morgen hast du von dem nichts zu befürchten.«
    »Aha«, sagte ich. Das erklärte zumindest, warum mich Violet aus der Bibliothek befreit hatte und nicht Rufus, und vielleicht hatte er mich nicht aus dem Haus lassen wollen, weil er selbst nicht da war, um zu kontrollieren, was ich im Garten tat. »Danke, Alan, du hast mir sehr geholfen.«
    »Siehst du?«, sagte Alan. »Sag ich doch. Und nächstes Mal lässt du dich gar nicht erst unterkriegen.«
    Dann reichte er mir seine Hand und zog mich wieder auf die Füße. Mir schmerzten die Beine und der Rücken, so klein hatte ich mich unter der Treppe zusammengefaltet. Ich streckte mich. Dann wünschte ich Alan eine gute Nacht und ging selbst schlafen, immer noch hungrig, aber ich merkte nicht mehr viel davon. Kaum lag ich in meinem Bett, begriff ich, wie entsetzlich wenig ich in der letzten Nacht geschlafen hatte. Herumzulaufen und Haus und Garten zu erkunden, forderte doch seinen Tribut. So hatte mich bald der Schlaf überwältigt, und in meinen Träumen war alles voller Puppen, die vor Freude lachten, wenn sie mich sahen – und ich wusste, es gab keinen Grund mehr, sie zu fürchten.

Sechstes Kapitel
    Ich hätte es nicht für möglich gehalten, wie schnell ich mich an das Leben in einem stolzen Herrenhaus gewöhnen sollte, aber tatsächlich passierte genau das. Als der nächste Tag anbrach, stieg ich aus dem Bett ohne dieses Gefühl der Ungewissheit. Ich hatte eine Vorstellung davon, was auf mich zukommen würde, und selbst wenn ich nicht alle Überraschungen vorhersehen konnte, hatte sich die Kompassnadel meines Lebens doch schon so in ihrer neuen Position eingependelt, dass ich zumindest wieder sagen konnte, wo mein Norden war.
    Das Frühstück mit Violet hatte seinen Zauber verloren. Wenn man mit vor Hunger knurrendem Magen aufwachte, brauchte man etwas Richtiges zu beißen, und die süßen kleinen Brote, an denen sich die Lady erfreute, waren nur etwas für den hohlen Zahn. An diesem Tag gab es weiches französisches Weißbrot, mit Mandelsplittern bestreut, aber egal ob mit Sirup, mit Honig oder mit Orangenmarmelade, ich

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