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Das Puppenzimmer - Roman

Das Puppenzimmer - Roman

Titel: Das Puppenzimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maja Ilisch
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wollte nicht, dass er meine Tränen sah, und auch nicht, wie ich errötete.
    »He, du«, sagte er, »du musst doch nicht weinen!« Sein Dialekt war weich und fremd, ganz anders, als die Burschen in London sprachen, der Kohlejunge oder der Milchmann …
    »Doch«, antwortete ich trotzig, »jetzt gerade muss ich das. Und das ist meine eigene Entscheidung. Jawohl.« Ich klang so wild entschlossen, dass ich über den Klang meiner eigenen Stimme fast lachen musste.
    Alan hockte sich neben mich, und die Hand, die eben noch meine Schulter berührte, lag plötzlich auf meinem Knie, aber mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass er gar nicht erst um Erlaubnis bitten musste. »Was ist denn passiert?«, fragte er leise.
    Ich schluckte, um wieder zu Worten zu kommen und nicht doch noch laut zu schluchzen, denn das hätte ich mir nicht verziehen, erst recht nicht vor Alan. »Alles ist passiert«, sagte ich. »Mr. Trent –« Gerade noch rechtzeitig fiel mir ein, dass es Alan nichts anging, dass mich Mr. Trent in der Bibliothek eingeschlossen hatte, wenn das auf Rufus’ Geheiß geschehen war. »Mr. Trent war garstig zu mir, und Mrs. Arden auch, und die Köchin sowieso, und jetzt bekomme ich nicht einmal mehr etwas zu essen –«
    »Aber die Herrschaften behandeln dich doch gut, oder?«, sagte Alan. »Und ich habe auch nicht gesehen, dass du hier im Haus arbeiten müsstest, da hast du es doch eigentlich ganz gut. Und wenn du jetzt die Zeit hast, dich hier hinzusetzen und zu weinen, kannst du dich doch eigentlich nicht beschweren.« Er sprach ohne Groll, auch dann nicht, als er anfing, von seinem eigenen Leben zu erzählen: »Schau mal, ich stehe hier im Haus auf der untersten Stufe, was das angeht. Ich hab kein richtiges Bett, ich mache die Drecksarbeit, leere die Nachttöpfe und so, und fast jeder behandelt mich wie den Fußabtreter – also, du hast keinen Grund zum Weinen. Was soll ich denn sagen?«
    Ich schniefte etwas. »Von mir aus kannst du gerne mitweinen«, sagte ich, »ich habe das nicht für mich allein gepachtet.« Ich konnte witzig sein, selbst wenn ich weinte, war das nicht mal etwas?
    »Aber es bringt doch nichts«, sagte Alan. »Es macht nur, dass du dich erst recht schlecht fühlst. Statt dass du aufrecht durch die Gegend läufst und dir sagst, heute spucken sie auf dich, und morgen bist du selbst ganz oben.« Wenn ein Hausbursche sich hocharbeitete, zu was konnte er es bringen? Zum Butler? Wenn ich mir den griesgrämigen, krummen Mr. Trent ansah, war das nicht die Zukunft, die ich Alan wünschte. Der war ein vergnügter Kerl, immer noch oder schon wieder strubbelig, und seine Augen blitzten auf eine Weise, die mir ganz gut gefiel.
    »Du willst auf die Leute spucken?«, fragte ich und war erleichtert, als Alan den Kopf schüttelte.
    »Nein, das habe ich nicht nötig. Aber ich will, dass sie mich respektieren. Wenn es mich nicht gäbe, müssten sie ihre Nachttöpfe selbst leeren, und das hat etwas Tröstliches, findest du nicht?«
    Ich nickte und versuchte, seine Worte auf meine Situation zu übertragen. Alan verrichtete wenigstens eine wichtige Arbeit, ohne die das Leben in Hollyhock nicht so angenehm gewesen wäre. Aber das, was ich machte, konnte man einfach wegdenken, ohne dass es etwas änderte. Ich war dem Haus egal. Wo Alan aufrecht und stolz auf sein Tagwerk blicken konnte, hatte ich nur die Ehre, ein Geheimnis zu wahren, das vermutlich keinen Menschen interessierte.
    »Meinen Respekt hast du«, sagte ich. »Wirklich. Und bestimmt ist deine Familie auch stolz auf dich, oder?«
    Alan lachte und schüttelte den Kopf. »Ich hab keine«, sagte er. »Du bist doch auch eine Waise, oder? Ich hab die Leute reden hören, dass Mr. Molyneux ein Mädchen aus einem Waisenhaus holen würde. Dann muss ich dir nicht sagen, wie das ist.«
    »Dann musst du dein Geld wenigstens nicht nach Hause schicken«, sagte ich, und Alan grinste.
    »Ohne Zuhause geht das schlecht.«
    Dann lachten wir beide. Es war erstaunlich, wie wenig plötzlich ausreichte, um zwei Menschen, die einander kaum kannten, zusammenzuschmieden. In St. Margaret’s war jedes Mädchen ein Waisenkind, und doch reichte das nicht aus als Grundlage für eine Freundschaft, aber hier, wo wir die Einzigen waren, die keine Eltern hatten, genügte es schon.
    »Du weißt nicht zufällig, wo ich jetzt noch etwas zu essen bekomme, oder?«, fragte ich.
    Alan schüttelte den Kopf. »Mrs. Arden hält die Speisekammer immer abgeschlossen, damit keiner von uns auf die

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