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Das Puppenzimmer - Roman

Das Puppenzimmer - Roman

Titel: Das Puppenzimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maja Ilisch
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hätte meine linke Hand für einen anständigen Teller Porridge gegeben, ein richtiges Stück Brot oder eine Portion gebackener Bohnen. Ich wusste nichts über meine Herkunft, aber zweifelsohne stammte ich nicht vom Kontinent, sonst hätte mich dieses Frühstück sicherlich mehr erfreut – oder war es nicht das, was sie in Frankreich aßen?
    »Mein Bruder ist nach London gefahren«, sagte Violet so beiläufig, als ginge es um einen kurzen Weg, den man mal eben zu Fuß zurücklegen konnte, und mir fiel auf, dass ich noch immer keine Ahnung hatte, in welcher Grafschaft Hollyhock überhaupt lag. Mit dem Namen des Ortes allein konnte ich sicherlich nicht viel anfangen; er würde kaum bedeutend genug sein, um in dem großen Atlas verzeichnet zu sein. Bei nächster Gelegenheit musste ich Alan fragen. »Er wird darum heute nicht mit uns frühstücken.«
    Ich verkniff mir die Bemerkung, dass er ja sonst eigentlich auch nichts aß, und fragte lieber: »Hat er Geschäftliches zu tun?« Ich rechnete nicht mit Vertraulichkeiten, aber wenn ihr Bruder nicht da war, brauchte Violet vielleicht ein wenig Gesellschaft, und ich wollte wenigstens versuchen, das zu meinen Gunsten zu nutzen.
    Aber als ob sie das ahnte, lächelte Violet mich nur an. »Du hast dich nicht für Mr. Molyneux’ Geschäfte zu interessieren. Erzähle mir lieber, was du gestern geschafft hast – du solltest die erste Puppe bis zum Ende bearbeitet haben, oder hat es irgendwelche … Zwischenfälle gegeben?« Sie machte eine Pause beim Sprechen, als wollte sie mir durch die Blume zu verstehen geben, dass sie ganz genau wusste, dass mit den Puppen etwas nicht stimmte und man damit rechnen musste, dass ungewöhnliche Dinge in ihrer Umgebung passierten. Aber wenn Violet mir nicht traute, dann traute ich ihr ebenfalls nicht.
    »Ich zeige Ihnen gerne meine Notizen«, sagte ich. »Dann können Sie sehen, ob ich alles richtig gemacht habe und zu Ihrer Zufriedenheit.«
    Aber Violet schüttelte den Kopf. »Arbeite nur weiter wie gestern«, sagte sie. »Wenn mein Bruder aus der Stadt zurück ist, wirst du ihm deine Aufzeichnungen vorlegen, und er wird entscheiden, ob sie seinen Anforderungen entsprechen. Mich interessiert mehr, was dir neben der Schreibarbeit aufgefallen ist. So ein aufgewecktes kleines Mädchen wie du bekommt doch sicher eine ganze Menge mit.«
    Ich musste die Lippen zusammenpressen – dass man mich als » kleines Mädchen « bezeichnete, passierte doch nur noch in beleidigendem Zusammenhang, ich war immerhin 14 Jahre alt und fast so groß wie der Butler. Nur weil Violet eine hochgewachsene Frau war, ließ mich das doch nicht gleich schrumpfen. Wieder war ich mir nicht sicher, was sie von mir hören wollte: Vielleicht ging es ihr doch nur um die Frage, was die Diener hinter ihrem Rücken redeten, und da lag ja einiges im Argen, angefangen mit der Köchin. Sicherheitshalber fragte ich: »Wie meinen Sie das?«
    Violet legte den Kopf schief. »Musst du das wirklich noch fragen? Ist dir nicht inzwischen aufgefallen, dass in diesem Haus … manchmal Dinge passieren?« Es klang, als müsste sie Rufus’ Abwesenheit ausnutzen, um mir diese Frage stellen zu können – hätte der zugelassen, dass seine Schwester so offen andeutete, dass in diesem prachtvollen Haus etwas nicht stimmte? Aber ich traute der Honigfalle nicht.
    »Wenn mir etwas Derartiges auffällt«, sagte ich unverbindlich, »werde ich Ihnen als Erstes Bescheid geben, das verspreche ich.«
    »Sehr schön«, antwortete Violet. »Dann werden wir uns morgen deine Arbeit ansehen. Und jetzt mach dich ans Werk.«
    Aber nach den schlechten Erfahrungen des Vortags hatte ich dazugelernt. Ich wollte nicht noch einmal über der Arbeit riskieren, das Essen zu verpassen. Um die Puppen konnte ich mich auch am Nachmittag kümmern, die liefen mir nicht weg – das Essen hingegen schon. Vielleicht würde ich mir schon eine Puppe aussuchen, mit der ich dann später weitermachen konnte, damit ich nicht ganz untätig blieb und niemand mir vorwarf, dass ich vor dem Abendessen keinen Finger rührte – aber mehr auch wieder nicht.
    Als ich in das Puppenzimmer schlüpfte und schnell die Tür hinter mir schloss – sicher war sicher –, hatte ich das Gefühl, dass mich mein Herbstkind besonders freundlich anlächelte. Natürlich, es gab ja auch nichts Schöneres als ein Mädchen, das einem die Kleider vom Leib riss, einen auf den Fußboden legte und dann hochnotpeinliche Vermessungen anstellte, aber vielleicht freute

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