Das Rad der Ewigkeit: Roman (German Edition)
Antonow strich mit der Hand über das Wandbild vor ihm.
»Schauen Sie nur die Tiefe in diesem Bild!«, rief er. »Erzeugt wird dies durch eine ganz besondere Politur.« Er schritt zu einer der weißen Statuen und deutete auf sie. »Carrara-Marmor. Der wohl edelste Marmor. Er kommt aus Carrara in der Toskana. Schauen Sie, wie samtig er schimmert. Dies ist einzigartig.« Antonow, der ins Schwärmen geraten war, schaute zu mir. »Ich langweile Sie mit meinen Ausführungen, richtig? Es tut mir leid, Sie müssen sich schrecklich fühlen.«
Ich entgegnete nichts, sondern erhob mich langsam und stützte mich dabei an der Marmorwand hinter mir ab.
»Ich will zur Sache kommen. Wissen Sie, was all diese Motive hier im Raum zeigen?«, fragte Antonow.
Ich lehnte mich gegen die Wand und schüttelte den Kopf.
»Es sind alles Szenen aus den Metamorphosen von Ovid. Dies sagt Ihnen aber etwas?« Antonow neigte den Kopf und fixierte mich mit einem bohrenden Blick.
»Ich habe im Lateinunterricht schon einmal davon gehört …«, antwortete ich widerwillig. »Aber ich habe keine Ahnung, worauf Sie hinauswollen.«
»Die Metamorphosen bestehen aus fünfzehn Büchern, jedes von ihnen umfasst sieben-bis neunhundert Verse. Alle Bücher beschreiben Metamorphosen. Schauen Sie hier!« Antonow machte einen schnellen Schritt zur Seite. »Diana, Alpheus und Arethusa. Ovid erzählt, wie der Flussgott Alpheus sich in die Nymphe Arethusa verliebt. Auf der Flucht wird sie von Diana in eine Quelle verwandelt. Alpheus verwandelt sich ebenfalls in Wasser und sucht die Quelle bis heute. Eine zweifache Metamorphose.«
Ich stieß mich von der kalten Marmorwand ab und machte einige Schritte auf den Russen zu. Ein Schmerz durchfuhr meinen Nacken und den Kopf, und ich geriet ins Wanken. Sergeij eilte herbei und fing mich auf. Behutsam setze er mich zurück auf den Vorsprung.
»Vielleicht haben Sie aber von der Metamorphose der Sibylle von Cumae gehört, die Ovid beschreibt?«, fuhr Antonow fort. Erneut schüttelte ich den Kopf. »Sie war eine berühmte Weissagerin und konnte in die Zukunft sehen. Apollo verliebte sich in sie und versprach, ihr einen Wunsch zu erfüllen. Sie wünschte sich, tausend Jahre lang zu leben. Apollo gewährte ihr diesen Wunsch. Und tatsächlich lebte sie tausend Jahre. Jedoch vergaß sie, sich auch ewige Jugend zu erbitten. Und so alterte sie und alterte sie. Am Ende war sie tausend Jahre alt und derart eingeschrumpft, dass sie in einer Flasche lebte und sich nichts sehnlicher wünschte als den Tod. Sie hatte genug von der Ewigkeit.«
»Was hat dies alles mit mir zu tun?«, fragte ich genervt, beugte mich vor und legte meinen Kopf auf meine Arme.
»Unser Thema ist die Ewigkeit!«, entgegnete Antonow mit plötzlich sehr ernster Stimme. Er trat zu mir und kniete sich hin. »Wenn selbst Gott Apollo der Sibylle nicht das perfekte ewige Leben schenken konnte, wie soll es dann möglich sein, dass ein Mühlenbauer vor dreihundert Jahren die ewige Bewegung erfunden hat – ein funktionierendes Perpetuum mobile? Und selbst wenn es möglich sein sollte, wer sagt dann, dass es tatsächlich erstrebenswert ist und nicht wie bei den Geschichten Ovids Metamorphosen in einer Katastrophe endet?«
Ich hob meinen Kopf und blickte direkt in das Gesicht des knienden Antonow, der mich fragend anstarrte. Rasch versuchte ich, meine Gedanken zu ordnen. Der Mann hier vor mir war also Vorstandsvorsitzender des größten Gas-Unternehmens der Welt. Und er wollte mit mir über Orffyreus’ Erfindung sprechen. Der Scherge der Elements Society links von mir spielte offenbar ein doppeltes Spiel und hatte mich hierher gebracht anstatt zu denen, die Julia in der Gewalt hatten. Mein Plan, das Perpetuum mobile gegen Julia zu tauschen, war somit gescheitert. Ich musste mir also etwas Neues einfallen lassen. Immerhin hatte der russische Gas-Oligarch etwas zu bieten, was mir helfen konnte …
»Wenn diese Sibylle, wie Sie gesagt haben, tatsächlich eine Wahrsagerin gewesen ist«, begann ich, »kann dies nur bedeuten, dass sie bei ihrem Wunsch nach Metamorphose vorhergesehen hat, dass sie eines Tages als lebendiger Schrumpfkopf in der Flasche enden wird. Das bedeutet dann aber, dass dieser Ovid entweder ein verdammt schlechter Geschichtenerzähler gewesen ist – oder aber, dass die Sibylle absichtlich ihr Schicksal als Flaschengeist gewählt hat. Sie fand es also erstrebenswert, warum auch immer. Und solange sich jemand findet, der so denkt, wird es den Wunsch
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