Das Rad der Ewigkeit: Roman (German Edition)
Sankt-Andreas-Hospitals in der Stadt untergebracht. Als Orffyreus den stickigen Raum betrat, drückte er rasch sein Taschentuch fest gegen Mund und Nase, da es hier entsetzlich nach Kot, Urin und Erbrochenem stank. Dennoch schritt er entschlossen die Bettenreihen zu beiden Seiten ab, um Semler zu finden. Im Hospital lagen überwiegend alte Menschen; einige stöhnten oder winselten leise vor sich hin, andere gaben keinen Laut von sich und erschienen wie tot.
In einem der letzten Betten fand Orffyreus einen Mann, dessen Gesicht mit Binden umwickelt war. Durch zwei Löcher waren die Augen, durch ein weiteres Loch der Mund zu erkennen. Orffyreus trat an das Bett und beugte sich hinunter, bis sein Gesicht nur noch eine Handbreit über dem des Mannes war; dann lupfte er sein Taschentuch und sprach den Patienten laut an.
»Semler?«
Der Kranke zuckte zusammen und öffnete die Augen. Mit großen Pupillen schauten sie auf Orffyreus.
»Seid Ihr es?«, hakte er nach.
Kaum merklich bewegten sich die Augen.
»Ihr seht ja schon wieder ganz passabel aus!«, log Orffyreus.
Die Augen schlossen und öffneten sich wieder; zu mehr Regung war der Patient offenbar nicht in der Lage.
»Erinnert Ihr Euch an die Probe?«, erkundigte sich Orffyreus.
Der einbandagierte Kopf bewegte sich erneut.
»Ich habe eine gute Nachricht für Euch: Sie ist gelungen!« Kurz wartete Orffyreus auf eine Reaktion des Verletzten. Als diese nicht kam, sprach er weiter. »Ihr wart Vorsitzender der Kommission, und was jetzt nur noch fehlt – und deswegen bin ich hier –, ist Eure Unterschrift unter dem Protokoll.«
Semler winselte leise, und ein wenig Spucke lief aus dem Loch im Verband, hinter dem Orffyreus den Mund vermutete.
»Ich verstehe Euch leider nicht. Könnt Ihr schreiben?«
Nun schüttelte Semler erstmals heftiger den Kopf.
»Wir versuchen es einfach!«, erklärte Orffyreus. Er legte sein Taschentuch beiseite, griff in eine Tasche seines Gehrocks und zauberte ein kleines Tintenfass und einen Federkiel hervor. Er öffnete das Tintenfass und stellte es auf das Laken. Dann tunkte er den Federkiel hinein und hob Semlers Hand, die kalt und schlaff war. Mit großem Geschick formte er aus den leblosen Fingern eine Haltung, wie man sie beim Schreiben üblicherweise einnahm, und presste den Federkiel hinein. Anschließend nestelte Orffyreus unter seinem Gehrock und holte ein Blatt Papier hervor, auf dem bereits andere Unterschriften zu erkennen waren. An einer freien Stelle setzte er den Federkiel an. »Schreibt, Semler!«
Der Schwerverletzte reagierte nicht. Aus großen Augen starrte er seinen Besucher an.
Orffyreus stieß einen Seufzer aus. »Es ist eine historische Unterschrift. Ihr werdet als Vorsitzender der Kommission berühmt werden!«
Immer noch machte Semler keine Anstalten, seine leblose Hand zu bewegen – wenn er es denn überhaupt noch konnte. Orffyreus hielt sie dennoch mit festem Griff umklammert, sodass die Knöchel bereits weiß wurden.
»Ihr seid aber auch ein Pechvogel«, merkte Orffyreus nun an und setzte eine mitleidige Miene auf. »Wie werdet Ihr nur Eure vielen Kinder die nächsten Wochen ernähren. An Arbeit wird nicht zu denken sein.« Semler stöhnte und schien mit den Schultern zu zucken. »Ich könnte Eurer Frau einen kleinen Geldbetrag zukommen lassen, mit dem sie die nächste schwere Zeit überbrücken kann. Sagen wir zwei Taler. Euer Einverständnis erklärt Ihr bitte mit einer kleinen Bewegung Eurer Hand!«
Semler schloss kurz die Augen. Dann schien plötzlich Leben in seine Hand zu fahren. Mit langsamer Bewegung fuhr sie, von Orffyreus’ festem Griff halb gelenkt, über das Papier und zeichnete so etwas wie eine Unterschrift darauf. Kaum war Semler fertig, entriss Orffyreus ihm den Federkiel und verstaute das Papier, nachdem er kurz über die Tinte gepustet hatte, unter seinem Gewand.
»Ich danke Euch, mein Herr!«, rief er nun aus und tätschelte ihn leicht dort, wo er dessen Wange vermutete.
Semler stöhnte vor Schmerzen.
»Ach, eines noch«, fuhr Orffyreus fort. »Ihr werdet kaum in der Lage sein, Eure Lösung des Längenproblems rechtzeitig bei der Kommission in London einzureichen, um das Preisgeld zu kassieren. Man sagte mir, Ihr werdet hier noch Wochen verbringen. Ich werde Eurer Frau das Geld persönlich vorbeibringen und sie bitten, mir die Unterlagen auszuhändigen. Dann reiche ich diese ein. Das bin ich Euch schuldig. Selbstverständlich erhaltet Ihr die Hälfte des Preisgeldes, was überaus
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