Das Rad der Zeit 0. Das Original: Der Ruf des Frühlings. Die Vorgeschichte (German Edition)
Gewebe zu vollenden, ganz egal, was Moiraine dagegen unternahm. Zumindest schaffte sie jedes Mal zwei Drittel. An diesem Abend schaffte sie unter Elaidas strenger Anleitung beim ersten Mal zwanzig. Beim zweiten Mal waren es siebzehn, und vierzehn beim dritten Mal. Ihr Gesicht verlor alle Farbe und war schweißbedeckt. Ihr Atem kam stoßweise. Aber sie hatte nicht eine Träne vergossen. Und wenn ein Gewebe versagte, fing sie ohne innezuhalten wieder von vorn an. Beim vierten Versuch vollendete sie zwölf. Und zwölf beim fünften Mal, wie auch beim sechsten Mal. Verbissen fing sie wieder von Neuem an.
»Das reicht für heute«, sagte Elaida. In ihrer Stimme lag kein Funken Mitleid. Siuan drehte sich langsam und schmerzerfüllt um, das Licht Saidars verschwand. Ihr Gesicht war völlig ausdruckslos. Elaida fuhr ruhig fort und richtete die Stola auf ihren Schultern. »Selbst wenn Ihr es geschafft hättet, würdet Ihr dennoch versagen. Ihr habt keinen Funken innerer Ruhe in Euch.« Sie fixierte zuerst Siuan und dann Moiraine mit einem strengen Blick. »Vergesst nicht, Ihr müsst in allem , was Ihr tut, ruhig und gelassen sein. Und Ihr müsst schnell sein. Wenn Ihr langsam seid, dann werdet Ihr so sicher scheitern, als würdet Ihr in Panik verfallen. Morgen Abend werden wir sehen, ob Ihr es besser könnt.«
Siuan wartete, bis die Tür hinter der Aes Sedai ins Schloss fiel, dann warf sie den Kopf zurück. »Beim Licht!«, japste sie und fiel auf die Knie; sturzflutartig kamen die Tränen, die sie zurückgehalten hatte.
Moiraine sprang vom Bett. Das heißt, sie versuchte es. In Wahrheit war es kaum mehr als ein schmerzerfülltes Kriechen, und Myrelle erreichte Siuan als Erste. Die drei knieten zusammen am Boden, hielten einander und weinten, Myrelle genauso sehr wie sie oder Siuan.
Schließlich löste sich Myrelle, schniefte und wischte sich mit den Fingern die Tränen von den Wangen. »Wartet hier«, sagte sie, als wären sie in der Verfassung, irgendwohin gehen zu können, und schoss aus dem Raum. Kurz darauf kehrte sie mit einem roten Glasgefäß sowie mit Sheriam und Ellid zurück, die dabei halfen, Siuan und Moiraine auszuziehen und die Salbe aus dem Glas aufzutragen.
»Das ist Unrecht!«, stieß Ellid hervor, sobald sie nackt waren und sie das Glas öffnete und das entsetzte Stöhnen über ihre Striemen und Blutergüsse aufgehört hatte. Sheriam und Myrelle nickten schnell. »Das Gesetz verbietet es, eine Schülerin mit der Macht zu disziplinieren!«
»Ach ja?«, knurrte Siuan. »Und wie oft habt Ihr einen Knuff am Ohr mit der Macht von einer Schwester bekommen oder einen Streifen auf Euren Allerwertesten?« Ihr entfuhr ein Stöhnen. »Es ist nicht nötig, das bis auf den Knochen einzureiben, oder?«
»Es tut mir leid«, sagte Ellid zerknirscht. »Ich versuche, es besser zu machen.« Eitelkeit war ein schlimmer Fehler, aber es war auch ihr einziger richtiger Fehler. Ihr einziger. Es fiel sehr schwer, Ellid zu mögen. »Ihr beide solltet das melden. Wir könnten alle zu Merean gehen.«
»Nein«, keuchte Moiraine heiser. Zuerst brannte die Salbe schlimmer als die Striemen. Danach war es besser. Zumindest etwas. »Ich glaube, Elaida will uns wirklich helfen. Sie behauptet, sie will , dass wir bestehen.«
Siuan starrte sie an, als wären ihr Federn gewachsen. »Ich kann mich nicht erinnern, gehört zu haben, dass sie das gesagt hat. Ich persönlich glaube, sie versucht dafür zu sorgen, dass wir scheitern!«
»Außerdem«, fuhr Moiraine fort, »wer hätte je gehört, dass …? Au! Au!« Sheriam murmelte eine Entschuldigung, aber die Salbe brannte trotzdem. »Wer hätte je gehört, dass sich eine Aufgenommene beschwert, ohne dafür zu bezahlen?«
Das rief dreimal ein Nicken hervor. Zwar nur widerstrebend, aber sie nickten. Novizinnen, die sich beschwerten, erhielten eine sanfte, aber energische Erklärung, warum die Dinge so waren, wie sie waren. Von den Aufgenommenen erwartete man, dass sie es besser wussten. Von ihnen wurde verlangt, dass sie Zähigkeit genauso lernten wie Geschichte oder die Beherrschung der Einen Macht.
»Vielleicht entscheidet sie sich ja dazu, Euch in Ruhe zu lassen«, meinte Sheriam, aber sie hörte sich nicht so an, als würde sie das auch glauben.
Als sie schließlich gingen, ließ Myrelle die Salbe da. Nur Verins widerlich schmeckendes Gebräu ließ sie schlafen; sie krümmten sich auf Moiraines schmalem Bett unter den Decken zusammen, und das Glas Salbe auf dem Kaminsims war eine
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