Das Rad der Zeit 10. Das Original: Zwielichtige Pfade (German Edition)
nicht leiden zu können. Sie versuchten ihre Autorität bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu untergraben, wenn sie sich nicht gerade gegenseitig bekämpften oder Cliquen bildeten, aber viele von ihnen teilten Sevannas Vorliebe für Feuchtländerschmuck, und ein paar waren sogar ihrem Beispiel gefolgt und trugen Ringe an den Fingern. An Someryns rechter Hand steckte ein großer weißer Opal, in dem rote Adern aufblitzten, wenn sie ihr Schultertuch richtete, und an der linken war ein langer blauer, mit Rubinen eingefasster Saphir. Allerdings hatte sie nicht die Seidenkleidung übernommen. Ihre Bluse war einfaches weißes Aglode aus der Wüste, und Rock und Schultertuch bestanden aus dicker Wolle, die genauso dunkel wie das zusammengefaltete Halstuch war, mit dem sie ihr taillenlanges blondes Haar aus dem Gesicht hielt. Die Kälte schien sie nicht im Mindesten zu stören.
Sie standen direkt jenseits der Grenze, die Failes Ansicht zufolge das Lager der Shaido von dem der Gai’shain trennte – dem der Gefangenen –, aber natürlich gab es in Wirklichkeit keine zwei Lager. Ein paar Gai’shain schliefen bei den Shaido, aber den Rest hielt man in der Mitte des Lagers, wenn sie nicht ihren aufgetragenen Arbeiten nachgingen, Vieh, das durch eine Mauer aus Shaido vom Lockruf der Freiheit abgegrenzt wurde. Die meisten Männer und Frauen, die an ihnen vorbeigingen, trugen die weißen Gewänder der Gai’shain , wenn auch nur wenige so fein gewoben waren wie das ihre. Da so viele einzukleiden waren, nahmen die Shaido sämtliches weißes Tuch, das sie finden konnten. Manche trugen grobes Leinen oder Handtuchstoff oder gar Gewänder aus rauer Zeltplane, und viele Gewänder waren schlammverschmiert oder mit Asche verdreckt. Nur gelegentlich hatte einer der Gai’shain die Größe und die hellen Augen eines Aiel. Die überwiegende Mehrzahl waren rotgesichtige Amadicianer, Altaraner mit olivenfarbener Haut und blasse Cairhiener, dazu kamen der eine oder andere Reisende oder Kaufmann aus Illian oder Tarabon oder woher auch immer, die sich zur schlimmsten Zeit am schlimmsten Ort aufgehalten hatten. Die Cairhiener befanden sich am längsten von allen in Gefangenschaft und hatten sich – abgesehen von den Aiel in Weiß – resigniert in ihr Schicksal gefügt, aber sie alle hielten den Blick gesenkt und gingen ihren Arbeiten so schnell nach, wie es der zertrampelte Schnee und Schlamm erlaubte. Von Gai’shain wurde erwartet, dass sie Demut und Gehorsam zeigten und sich beides bereitwillig zu eigen machten. Jede geringere Anstrengung führte zu schmerzhaften Lektionen.
Faile wäre auch gern weitergeeilt. Die kalten Füße spielten bei dem Wunsch nur eine geringe Rolle, und das Verlangen, Sevannas Wäsche zu waschen, noch weniger. Zu viele Augen konnten sehen, wie sie hier in aller Öffentlichkeit mit Someryn zusammenstand, und obwohl die tiefe Kapuze ihr Gesicht verbarg, kennzeichnete der breite Gürtel aus funkelnden Goldgliedern um ihre Taille und der dazu passende eng sitzende Kragen sie als Sevannas Dienerin. Niemand nannte sie so – in den Augen der Aiel war die Tätigkeit als Diener demütigend –, aber genau das waren sie, zumindest die Feuchtländer, nur dass man sie nicht bezahlte und sie noch weniger Rechte und Freiheiten hatten als jeder Diener, von dem Faile je gehört hatte. Früher oder später würde Sevanna erfahren, dass Weise Frauen ihre Gai’shain befragten. Sevanna hatte über hundert Diener und vergrößerte deren Anzahl ständig, und Faile war davon überzeugt, dass jeder Einzelne von ihnen vor den Weisen Frauen jedes Wort wiederholen würde, das sie Sevanna hatten sagen hören.
Es war eine brutal effiziente Falle. Sevanna war eine strenge Herrin, und zwar auf eine eher gleichgültige Weise, sie schrie nie jemanden an und zeigte auch nur selten offen irgendwelche Wut, aber die kleinste Übertretung, der winzigste Ausrutscher in Betragen oder Verhalten wurde auf der Stelle mit dem Riemen oder der Rute bestraft, und jeden Abend wurden die fünf Gai’shain , die sie an diesem Tag am wenigsten zufriedengestellt hatten, für zusätzliche Bestrafungen – außer einer weiteren Prügelstrafe mussten sie die Nacht gefesselt und geknebelt verbringen – ausgesondert, um dem Rest als Beispiel zu dienen. Faile wollte gar nicht daran denken, was diese Frau mit einem Spion machen würde. Andererseits hatten die Weisen Frauen deutlich gemacht, dass sich jeder, der nicht freiwillig das weitergab, was er gehört hatte
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