Das Rad der Zeit 10. Das Original: Zwielichtige Pfade (German Edition)
gegenüberliegenden Seite. Dort öffneten sich die Durchgänge von zwei sich kreuzenden Korridoren, aber es war niemand zu sehen.
»Was ist denn, Elsie?«, wollte Elayne wissen. Mehrere verschiedene Gewebe waren fast vollendet, von einem einfachen Netz aus Luft bis zu einem Feuerball, der die vor ihr befindlichen Wände pulverisiert hätte, und in ihrer derzeitigen Stimmung wollte sie einen von ihnen benutzen, wollte mit der Macht zuschlagen. In letzter Zeit waren ihre Stimmungen etwas unberechenbar, um es höflich auszudrücken.
Das Mädchen schaute zitternd über die Schulter, und wenn ihre Augen zuvor weit aufgerissen gewesen waren, quollen sie jetzt förmlich hervor. Ihre Hände krallten sich noch immer vor ihren Mund, als wollte sie einen weiteren Schrei verhindern. Sie hatte schwarze Augen und schwarze Haare, war hochgewachsen mit einem üppigen Busen und trug die graublaue Livree des Hauses Matherin; eigentlich war sie gar kein Mädchen mehr – Elsie mochte vier oder fünf Jahre älter als Elayne sein –, aber so, wie sie sich benahm, fiel es schwer, sie für etwas anderes zu halten.
»Was ist denn, Elsie? Und erzähl mir nicht, dass es nichts war. Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«
Das Mädchen zuckte zusammen. »Das habe ich auch«, sagte sie unsicher. Dass sie Elaynes Titel unterschlug, zeigte, wie durcheinander sie war. »Lady Nelein, Lord Aedmuns Großmutter. Sie starb, als ich noch klein war, aber ich kann mich noch daran erinnern, dass sich selbst Lord Aedmun wegen ihres Temperaments in ihrer Umgebung auf Zehenspitzen bewegte, und die Dienerschaft sprang, wenn sie sie nur anschaute, und die zu Besuch kommenden Ladys auch, genau wie die Lords. Jeder hatte Angst vor ihr. Sie stand direkt vor mir, und sie hat so wütend dreingeschaut …« Sie verstummte und wurde dunkelrot, als Elayne lachte.
Es war mehr ein Lachen der Erleichterung als alles andere. Die Schwarze Ajah war ihr nicht bis in Lord Aedmuns Herrenhaus gefolgt. Es warteten keine Attentäter mit blankgezogenen Messern, keine Elaida treu ergebene Schwestern, die sie nach Tar Valon zurückschleppen wollten. Manchmal träumte sie davon, und zwar von allem im selben Traum. Sie ließ Saidar los, so widerstrebend wie immer, voller Bedauern, dass die Fülle des Lebens und der Freude aus ihr herausströmte. Matherin unterstützte sie, aber Aedmun hätte es vermutlich missverstanden, wenn sie sein Haus zerstört hätte.
»Die Toten können den Lebenden nicht schaden, Elsie«, sagte sie besonders sanft, weil sie gelacht hatte, ganz zu schweigen davon, dass sie die alberne Gans am liebsten geohrfeigt hätte. »Sie sind nicht länger von dieser Welt, und sie können nichts darin berühren, uns eingeschlossen.« Das Mädchen nickte und machte noch einen Hofknicks, aber der Größe ihrer Augen und dem Zittern ihrer Lippen nach zu urteilen, war sie nicht davon überzeugt. Aber Elayne hatte keine Zeit, sie an der Hand zu nehmen. »Hol die Männer für mein Gepäck, Elsie«, sagte sie energisch, »und sorge dich nicht wegen der Geister.« Das Mädchen flitzte nach einem weiteren Hofknicks davon und ließ nervös den Kopf hin und her schwingen für den Fall, dass Lady Nelein aus den getäfelten Wänden sprang. Geister! Das Mädchen war eine alberne Gans!
Matherin war ein altes Haus, wenn auch nicht groß oder besonders stark befestigt, und die Haupttreppe, die zur Eingangshalle hinunterführte, war breit und mit einem Marmorgeländer ausgestattet. Die Halle mit ihren grauen und blauen Bodenfliesen und den mit Spiegeln versehenen Öllampen, die an Ketten von der zwanzig Fuß hohen Decke herabhingen, bot großzügig Platz. Hier war nichts vergoldet, und es gab auch kaum Einlegearbeiten, aber entlang der Wände standen mit Schnitzereien versehene Truhen und Schränke, und an der einen Wand hingen zwei Wandteppiche. Der eine stellte Reiter dar, die Leoparden jagten, ein bestenfalls unsicheres Geschäft, und der andere zeigte, wie die Frauen von Haus Matherin der ersten Königin von Andor ein Schwert übergaben, ein Ereignis, das die Matherin in Ehren hielten und von dem keiner sagen konnte, ob es tatsächlich passiert war.
Aviendha ging bereits ungeduldig in der Halle auf und ab, und Elayne seufzte, als sie es sah. Eigentlich hätten sie sich das Zimmer geteilt, wäre da nicht die Andeutung Matherins gewesen, zwei wichtige Besucherinnen nicht angemessen unterbringen zu können. Je kleiner das Haus, desto größer der Stolz. Die kleineren
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