Das Rad der Zeit 10. Das Original: Zwielichtige Pfade (German Edition)
fliehen, es waren auch tausend andere Dinge vorstellbar. Sie hoffte von ganzem Herzen, dass der Grund für seinen Ortswechsel harmlos war. Er würde allzu bald sterben – Männer, die die Macht lenken konnten, starben immer daran –, aber sie wollte ihn so lange wie möglich am Leben erhalten.
»Es geht ihm gut«, sagte Aviendha, als hätte sie ihre Gedanken lesen können. Seitdem sie sich einander gegenseitig als Erstschwestern adoptiert hatten, teilten sie ein eigenes Gespür für die andere, aber das ging nicht so tief wie der Behüterbund, den sie und Min mit Rand teilten. »Wenn er sich umbringen lässt, schneide ich ihm die Ohren ab.«
Elayne blinzelte, dann lachte sie wieder, und nach einem überraschten Blick stimmte Aviendha in das Lachen ein. So toll war der Witz nicht gewesen, höchstens für einen Aiel – Aviendha hatte einen sehr merkwürdigen Sinn für Humor –, aber Elayne konnte nicht aufhören zu lachen, und Aviendha ging es ebenso. Sie umarmten einander lachend und hielten sich fest. Das Leben war schon seltsam. Hätte ihr jemand vor ein paar Jahren gesagt, dass sie sich einen Mann mit einer anderen Frau teilen würde – mit zwei anderen Frauen! –, hätte sie ihn für verrückt erklärt. Allein die Vorstellung wäre unanständig gewesen. Aber sie liebte Aviendha genauso sehr wie Rand, nur auf eine andere Weise, und die Aiel liebte ihn genauso sehr, wie sie ihn liebte. Das zu verneinen hätte bedeutet, Aviendha zu verneinen, und da hätte sie genauso gut aus ihrer Haut schlüpfen können. Aiel-Frauen – egal ob Schwestern oder enge Freundinnen – heirateten oft denselben Mann und ließen ihm in dieser Sache nur selten eine Wahl. Sie würde Rand heiraten, und Aviendha auch, und Min ebenfalls. Was auch immer jemand davon halten mochte, es war eben so. Wenn sie lange genug lebten.
Plötzlich verspürte sie die Furcht, dass aus ihrem Lachen ein Weinen werden würde. Sie flehte das Licht an, dass sie nicht zu den Frauen gehörte, die bei einer Schwangerschaft weinerlich wurden. Es war schlimm genug, nicht zu wissen, ob sie in der nächsten Minute trübsinnig oder wütend sein würde. Manchmal vergingen Stunden, in denen sie sich völlig ausgeglichen fühlte, aber dann gab es wiederum Stunden, in denen sie sich wie ein Spielzeugball vorkam, der eine endlose Treppe hinunterhüpfte. An diesem Morgen schien sie oben an dieser Treppe zu stehen.
»Ihm geht es gut, und ihm wird es auch weiterhin gut gehen«, flüsterte Aviendha wild, als wollte sie sein Überleben dadurch gewährleisten, dass sie alles tötete, was ihn bedrohte.
Elayne wischte mit einer Fingerspitze eine Träne von der Wange ihrer Schwester. »Ihm geht es gut, und ihm wird es auch weiterhin gut gehen«, stimmte sie ihr leise zu. Aber sie konnten Saidin nicht töten, und der Makel der männlichen Hälfte der Macht würde ihn umbringen.
Die Deckenlampen flackerten, als sich einer der hohen Türflügel öffnete und einen Windstoß hereinließ, der noch kälter als die Luft in der Halle war, und sie rückten schnell voneinander fort und hielten sich nur noch an den Händen. Elayne glättete ihre Züge zu einer Miene der Gelassenheit, die einer Aes Sedai wert gewesen wäre. Sie konnte es sich nicht erlauben, dabei ertappt zu werden, wie sie offensichtlich Trost in einer Umarmung suchte. Einer Herrscherin oder jemand, der herrschen wollte, war nicht die kleinste Andeutung von Schwäche erlaubt, jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit. Es gab bereits genug Gerüchte über sie, gute wie schlechte. Sie war gütig oder grausam, gerecht oder willkürlich, großzügig oder geizig, je nachdem, welcher Geschichte man Glauben schenken wollte. Immerhin hielten sich diese Geschichten im Gleichgewicht, aber alle, die sagen konnten, dass sie mit eigenen Augen gesehen hatten, wie sich die Tochter-Erbin trostsuchend an ihre Gefährtin klammerte, fügten eine Geschichte über Angst hinzu, und wenn ihre Feinde zu der Überzeugung gelangten, dass sie Angst hatte, würden sie nur noch mutiger werden. Und stärker. Feigheit gehörte zu der Art von Gerücht, die wie Schlamm an einem kleben blieben; man wurde sie nie wieder richtig los. Die Geschichte erzählte von Frauen, die ihren Anspruch auf den Löwenthron aus unerfindlichen Gründen verloren hatten. Für einen erfolgreichen Herrscher war Befähigung eine Grundvoraussetzung, und auf Weisheit konnte man nur hoffen; zwar hatten Frauen den Thron errungen, denen es an beidem mangelte und die sich
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