Das Rad der Zeit 10. Das Original: Zwielichtige Pfade (German Edition)
wöchentlich, seit man die Novizinnen zu Familien zusammengefasst hatte. Die Nichten stützten einander durch Enttäuschungen und Tränen, und schafften es, einander die schlimmsten Fehler auszureden, so wie fortzulaufen. Auf der Seite stand nur ein Name. Nicola Treehill.
Egwene seufzte und legte das Blatt ab. Sie hätte gedacht, dass Nicolas Gier nach Wissen ihre Füße stillgehalten hätte, ganz egal, wie sehr ihre Unzufriedenheit auch wuchs. Trotzdem konnte sie nicht behaupten, dass es ihr leidtat, ihr Ende zu sehen. Nicola war verschlagen und skrupellos, dazu bereit, es mit Erpressung oder womit auch immer zu versuchen, wenn sie glaubte, dass es sie weiterbringen würde. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte sie Hilfe gehabt. Areina hätte sich nicht gesträubt, Pferde für eine Flucht zu stehlen.
Plötzlich fiel ihr das Datum neben dem Namen auf. Eigentlich waren es zwei Daten, die als Fragezeichen markiert waren. Monate wurden selten benannt, Tage wurden noch weniger gezählt, außer in offiziellen Dokumenten und Verträgen. Unterzeichnet, besiegelt und bezeugt in der Stadt Illian am zwölften Tag des Saven, in diesem Jahr … Und für Berichte dieser Natur, und wenn man den Namen einer Frau in das Novizinnenbuch aufnahm. Für den allgemeinen Gebrauch reichte es, wenn man schrieb, soundso viele Tage vor diesem Festtag oder jenem. Ausgeschrieben sah ein Datum für sie immer etwas seltsam aus. Sie musste es an den Fingern abzählen, um sich sicher zu sein, was sie da las.
»Nicola ist vor drei oder vier Tagen weggelaufen, Sheriam, und Tiana meldet es erst jetzt? Sie ist sich nicht einmal sicher, ob es vor drei oder vier Tagen war?«
»Nicolas Nichten haben sie gedeckt, Mutter.« Sheriam schüttelte kleinlaut den Kopf. Seltsamerweise erschien ihr kleines Lächeln aber amüsiert. Oder sogar bewundernd. »Nicht aus Zuneigung; anscheinend waren sie froh, das Kind gehen zu sehen und hatten Angst, dass man sie zurückbringt. Sie war ziemlich unerträglich, was ihr Talent im Vorhersehen anging. Tiana ist sehr erbost über sie. Ich fürchte, heute wird keine von ihnen sorglos in ihrer Klasse sitzen können, oder in den kommenden Tagen. Tiana sagt, sie will ihnen jeden Tag den Riemen statt Frühstück geben, bis Nicola aufgegriffen wurde. Obwohl ich glaube, dass sie schließlich einlenken wird. Da Nicola einen so großen Vorsprung hat, kann es einige Zeit dauern, bis man sie einholt.«
Egwene zuckte innerlich zusammen. Sie konnte sich an ihre eigenen Besuche im Studierzimmer der Herrin der Novizinnen erinnern, in dem sie damals jene Frau erwartete, die da vor ihr stand. Sheriam hatte einen starken Arm. Eine tägliche Dosis davon würde hart sein. Aber eine Ausreißerin zu schützen war ernster, als sich nach Einbruch der Nacht hinauszuschleichen oder einen Streich zu spielen. Sie schob den Bericht zur Seite.
»Tiana wird das machen, wie sie es für richtig hält«, sagte sie. »Sheriam, hat sich etwas wegen meines Traums ergeben? Was sagen die Schwestern?« Sie hatte den Traum über einen Angriff der Seanchaner am Morgen danach enthüllt, und die Frauen, denen sie davon berichtete, hatten sie apathisch angestarrt, vermutlich weil Anaiyas kurz zuvor ermordet worden war. Das hatte jedermann durcheinandergebracht.
Statt zu antworten, räusperte sich Sheriam und glättete ihre blau geschlitzten Röcke. »Euch ist das vielleicht nicht bekannt, Mutter, aber eine von Nicolas Nichten ist Larine Ayellin. Aus Emondsfelde«, fügte sie hinzu, als wüsste Egwene das nicht. »Keiner würde denken, dass Ihr sie bevorzugt, wenn Ihr ihrer ganzen Familie vergebt. Ob Tiana nun nachgibt oder nicht, in der Zwischenzeit will sie mit ihnen sehr streng umgehen. Sie werden leiden.«
Egwene lehnte sich auf dem Stuhl zurück, vorsichtig wegen des wackligen Beins, und schaute die andere Frau stirnrunzelnd an. Larine war fast im gleichen Alter wie sie, und sie waren in ihrer Kindheit enge Freundinnen gewesen. Sie hatten Stunden miteinander verbracht, hatten sich unterhalten und geübt, ihr Haar zu Zöpfen zu flechten für den Tag, an dem der Frauenkreis bestimmte, dass sie dafür alt genug waren. Trotzdem war Larine eine der wenigen Frauen aus Emondsfelde gewesen, die anscheinend akzeptiert hatten, dass Egwene wirklich der Amyrlin-Sitz war, obwohl sie es hauptsächlich dadurch zeigte, dass sie Abstand hielt. Aber glaubte Sheriam, sie würde jemanden bevorzugen? Sogar Siuan sah entsetzt aus. »Sheriam, Ihr solltet besser als jede andere wissen,
Weitere Kostenlose Bücher