Das Rad der Zeit 12. Das Original: Sturm der Finsternis (German Edition)
diesem Morgen waren sie eine traurige Schwesternschaft, am Morgen nach der größten Katastrophe in der Geschichte der Weißen Burg. Jesse sah die Frau neben sich an. Ferane Neheran – die Erste Denkerin der Weißen – war eine kleine stämmige Frau, die oft mehr Temperament als Logik zu haben schien, was für eine Weiße seltsam war. Heute war einer dieser Gelegenheiten: Sie saß mit finsterem Blick und verschränkten Armen da. Eine Tasse Tee hatte sie abgelehnt.
Neben ihr saß Suana Dragand, die Erste Weberin der Gelben Ajah. Sie bestand nur aus Haut und Knochen, war aber unbeugsam. Dann kam Adelorna, die eben Jesse beschuldigt hatte. Wer konnte dem Generalhauptmann der Grünen wegen ihrer Gehässigkeit einen Vorwurf machen? Sie, die Elaida hatte prügeln lassen und die vergangene Nacht beinahe durch die Hand der Seanchaner den Tod gefunden hatte? Die schlanke Frau sah seltsam ungepflegt aus. Ihr Haar war zu einem einfachen Knoten zurückgebunden, ihr helles Kleid zerknittert.
Die letzte Frau im Raum war Serancha Colvine, die Erste Schreiberin der Grauen Ajah. Sie hatte hellbraune Haare und ein spitzes Gesicht; sie erweckte immer den Eindruck, als hätte sie gerade in etwas Saures gebissen. Heute erschien dieser Charakterzug noch ausgeprägter als sonst zu sein.
»Sie hat da nicht unrecht, Jesse«, sagte Ferane. Ihr logischer Ton stand in direktem Gegensatz zu ihrem offensichtlichen Groll. »Ihr wart diejenige, die diese Handlungsweise vorgeschlagen hat.«
»›Vorgeschlagen‹ trifft es nicht genau.« Jesse trank einen Schluck. »Ich habe lediglich erwähnt, dass in einigen der … privateren Burgaufzeichnungen Berichte von Zeiten stehen, in denen die Anführerinnen der Ajahs anstelle der Amyrlin herrschten.« Das Dreizehnte Depositorium war den Anführerinnen der Ajahs bekannt, aber sie durften es nicht besuchen, solange sie nicht gleichzeitig Sitzende waren. Das hielt aber nur die wenigsten von ihnen davon ab, Sitzende zu schicken, um für sie Informationen zu holen. »Ich mag ja vielleicht die Botin gewesen sein, aber das ist oft die Rolle der Braunen. Keine von Euch hat gezögert, und man musste Euch nicht zu dieser Handlungsweise zwingen.«
Das rief ein paar schiefe Blicke hervor, und die Frauen fanden Gelegenheit, ihren Tee zu studieren. Ja, sie waren alle darin verwickelt, und das wussten sie auch. Jesse würde nicht die Verantwortung für dieses Fiasko auf sich nehmen.
»Es bringt nichts, jemanden verantwortlich zu machen.« Suana versuchte ausgleichend zu wirken, auch wenn ihre Stimme voller Bitterkeit war.
»So leicht gebe ich mich nicht zufrieden«, knurrte Adelorna. Manche reagierten auf den Verlust eines Behüters mit Trauer, andere mit Wut. Es bestand kein Zweifel daran, wie Adelorna es machte. »Ein schwerer, sehr schwerer Fehler wurde begangen. Die Weiße Burg brannte, die Amyrlin wurde von Angreifern verschleppt, und der Wiedergeborene Drache streift noch immer ungehindert umher. Bald wird die ganze Welt über unsere Schande Bescheid wissen!«
»Und was bringt es, wenn wir uns gegenseitig Vorwürfe machen?«, erwiderte Suana. »Sind wir denn so kindisch, dass wir dieses Treffen damit verbringen, uns darüber zu streiten, wer hängen wird, in dem sinnlosen Versuch, uns unserer Verantwortung zu entziehen?«
Im Stillen dankte Jesse der knochigen Gelben für ihre Worte. Natürlich war Suana die erste Anführerin einer Ajah gewesen, die Jesses Plan zugestimmt hatte. Also war sie die nächste in der Reihenfolge des metaphorischen Hängens.
»Sie hat nicht unrecht.« Serancha nahm einen Schluck Tee. »Wir müssen miteinander Frieden schließen. Die Burg braucht Führung, und die werden wir nicht vom Saal bekommen.«
»Was teilweise ebenfalls unsere Schuld ist«, gab Ferane zu und sah aus, als sei ihr übel.
Das stimmte. Dabei war es als ein solch brillanter Plan erschienen. Sie waren nicht für die Spaltung der Burg verantwortlich gewesen oder für den aufgebrachten, rebellischen Auszug so vieler Frauen und die Erhebung einer neuen Amyrlin. Aber es hatten sich dadurch mehrere Gelegenheiten geboten. Die erste war am leichtesten zu ergreifen gewesen: Sitzende zu den Rebellen zu schicken, um sie in die richtige Richtung zu lenken und die Versöhnung zu beschleunigen. Man hatte die jüngsten unter den Sitzenden ausgewählt, ihr Ersatz in der Burg war nur für kurze Zeit gedacht gewesen. Die Anführerinnen der Ajahs waren davon überzeugt gewesen, diese lächerliche Rebellion mühelos wieder
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