Das Rad der Zeit 5. Das Original: Die Feuer des Himmels (German Edition)
erinnern, die darauf dargestellten Szenen jemals gesehen oder von ihnen gehört zu haben.
Die Tür öffnete sich, und Nynaeve erschrak fast zu Tode. Eine rothaarige Aufgenommene, die sie noch nie gesehen hatte, trat ein und sah sie an. Sie verschwand keineswegs wieder. Gerade, als Nynaeve sich entschloss, in Sheriams Arbeitszimmer zurückzuspringen, sagte die rothaarige Frau: »Nynaeve, wenn Melaine wüsste, dass du ihr Gesicht benützt, würde sie mehr anstellen, als dich nur in ein Kinderkleid zu stecken!« Und genauso plötzlich war sie Egwene in ihrer Aielkleidung.
»Du hast mich so erschreckt, dass ich beinahe zehn Jahre älter geworden wäre«, knurrte Nynaeve. »Haben sich die Weisen Frauen endlich entschlossen, dich kommen und gehen zu lassen, wie es dir passt? Oder steckt Melaine dahin …«
»Du solltest auch Angst bekommen«, fauchte Egwene, und ihre Wangen verfärbten sich. »Du bist doch wohl närrisch, Nynaeve! Ein Kind, das in der Scheune mit einer brennenden Kerze spielt!«
Nynaeve blieb der Mund offen stehen. Egwene schalt sie? »Hör mal her, Egwene al’Vere! Das lasse ich mir nicht von Melaine sagen, und von dir schon …«
»Du solltest es dir aber von irgendjemandem sagen lassen, bevor du dich selbst umbringst in deinem Leichtsinn!«
»Ich …«
»Ich sollte dir diesen Steinring wegnehmen! Ich hätte ihn Elayne geben und ihr sagen sollen, dass sie ihn dir auf keinen Fall überlassen darf!«
»Elayne sagen, dass …!«
»Glaubst du etwa, Melaine habe übertrieben?«, fragte Egwene streng und hob mahnend ihren Finger, beinahe so wie Melaine. »Hat sie nicht, Nynaeve. Die Weisen Frauen haben dir immer wieder nichts als die Wahrheit über Tel’aran’rhiod gesagt, aber du hältst sie anscheinend für vollkommene Närrinnen. Du solltest eigentlich eine erwachsene Frau sein und kein dummes kleines Kind. Ich schwöre dir, was immer du einst an Vernunft besessen hast, scheint mittlerweile verpufft zu sein! Du solltest dich schleunigst wieder besinnen, Nynaeve!« Sie schnaubte laut und rückte das Tuch um ihre Schultern zurecht. »Gerade jetzt versuchst du, mit den hübschen Flammen im Kamin zu spielen, zu töricht, um zu erkennen, dass du dir die Finger verbrennen könntest.«
Nynaeve starrte sie verblüfft an. Sie stritten sich ja oft genug, aber Egwene hatte sie noch nie behandelt wie ein kleines Mädchen, das man gerade mit den Fingern im Honigtopf erwischt hat. Nie! Das Kleid. Es musste daran liegen, dass sie das Kleid einer Aufgenommenen trug und das Gesicht einer anderen. Sie änderte alles schnell ab und wurde wieder sie selbst, angetan mit einem blauen Wollkleid, das sie oft bei Zusammenkünften des Frauenzirkels getragen hatte und im Gemeinderat, wenn sie den Männern kräftig den Kopf wusch. So fühlte sie sich in all ihre frühere Autorität als Dorfheilerin gehüllt. »Es ist mir durchaus klar, was ich alles nicht weiß«, sagte sie beherrscht, »doch diese Aiel …«
»Ist dir eigentlich klar, dass du dich in etwas hineinträumen kannst, aus dem du nicht mehr entkommst? Hier sind die Träume wirklich. Wenn du dich in einen Wunschtraum hineintreiben lässt, kann er dir zur Falle werden. Du würdest dich selbst in die Falle locken. Solange, bis du stirbst.«
»Würdest du …?«
»Es gibt lebendige Albträume in Tel’aran’rhiod , Nynaeve!«
»Würdest du mich bitte zu Wort kommen lassen?«, fauchte Nynaeve. Oder vielmehr, sie bemühte sich, die Worte zu fauchen. Doch es klang viel zu sehr wie eine demütige Bitte, um ihr zu gefallen. Nichts lag ihr ferner, als zu betteln.
»Nein, würde ich nicht«, sagte Egwene ganz entschieden. »Solange nicht, bis du etwas zu sagen hast, was es wert ist zu hören. Ich sprach von Albträumen, und ich meinte damit Albträume, Nynaeve! Wenn jemand einen Albtraum hat, während er oder sie sich in Tel’aran’rhiod befindet, dann wird er hier zur Realität. Und manchmal bleibt er bestehen, obwohl der Träumer längst weg ist. Das ist dir nicht klargewesen, oder?«
Mit einem Mal packten grobe Hände Nynaeve an den Armen. Ihr Kopf schlug von einer Seite zur anderen, und die Augen quollen ihr heraus. Zwei riesige, zerlumpte Männer hoben sie empor. Ihre Gesichter waren Fratzen rohen Fleisches, und die triefenden Mäuler wiesen Reihen spitzer gelber Zähne auf. Sie versuchte, die beiden verschwinden zu lassen. Wenn das eine Traumgängerin der Weisen Frauen konnte, konnte sie es auch – und einer von ihnen riss ihr das Kleid vorne von
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