Das Rad der Zeit 5. Das Original: Die Feuer des Himmels (German Edition)
oben bis unten wie Papier auf. Der andere nahm ihr Kinn in eine schwielige, mit Hornhaut überzogene Hand und drehte ihr Gesicht mit Gewalt zu sich herum. Sein Kopf neigte sich ihr zu, und er öffnete den Mund. Sie wusste nicht, ob er sie küssen oder beißen wolle, doch sie wollte lieber sterben, als eines von beiden zulassen. Sie griff nach Saidar und fand nichts. Panische Angst erfüllte sie statt des notwendigen Zorns. Scharfe Fingernägel bohrten sich in ihre Wangen und hielten ihren Kopf fest. Irgendwie war Egwene dafür verantwortlich. »Bitte, Egwene!« Es kam wie ein verängstigtes Quieken heraus, doch sie war so sehr von Furcht erfüllt, dass ihr das gleichgültig war. »Bitte!«
Die Männer – Kreaturen – verschwanden, und ihre Füße trafen auf dem Boden auf. Einen Moment lang konnte sie nur dastehen, schaudern und schluchzen. Dann zog sie hastig ihr Kleid wieder zurecht, doch die Kratzer von den langen Fingernägeln blieben auf ihren Wangen und über den Brüsten. Kleidung konnte man in Tel’aran’rhiod problemlos reparieren, aber was auch immer einem Menschen selbst geschah … Ihre Knie zitterten so stark, dass sie alle Kraft benötigte, um wenigstens auf den Beinen zu bleiben.
Sie erwartete beinahe von Egwene, dass sie sie trösten werde, und diesmal wäre sie darüber mehr als nur froh gewesen. Aber die andere sagte lediglich: »Es gibt Schlimmeres hier, doch die Albträume sind schon schlimm genug. Ich habe die beiden erschaffen und wieder verschwinden lassen, aber selbst ich habe meine Schwierigkeiten mit jenen, die ich bereits hier vorfinde. Und ich habe nicht versucht, die beiden zu halten, Nynaeve. Hättest du gewusst, wie man sie wieder los wird, dann hättest du das jederzeit tun können.«
Nynaeve warf zornig den Kopf in den Nacken. »Ich hätte mich wegträumen können. In Sheriams Arbeitszimmer oder zurück in mein Bett.« Es klang keineswegs schmollend. Natürlich nicht, oder?
»Wenn du nicht viel zu viel Angst gehabt hättest, um überhaupt daran zu denken«, sagte Egwene trocken. »Ach, schminke dir diese mürrische Miene ab. Das sieht töricht aus.«
Sie funkelte die andere an, aber das zeigte nicht die übliche Wirkung. Anstatt mit ihr Streit anzufangen, zog Egwene lediglich eine Augenbraue hoch. »Nichts von alledem sieht irgendwie Siuan Sanche ähnlich«, sagte Nynaeve, um das Thema zu wechseln. Was war nur in dieses Mädchen gefahren?
»Stimmt«, stellte Egwene nach einem Rundblick fest. »Jetzt weiß ich, warum ich den Umweg über mein altes Zimmer im Novizinnenquartier machen musste, um hierherzukommen. Andererseits lieben manche Leute eben auch ein wenig Abwechslung.«
»Was ich meine, ist Folgendes«, sagte Nynaeve geduldig zu ihr. Sie hatte überhaupt nicht beleidigt geklungen und keineswegs mürrisch dreingeblickt. Er war einfach lächerlich. »Die Frau, die dieses Zimmer einrichtete, sieht die Welt ganz anders als die Frau, die das auswählte, was sich vorher hier befand. Schau dir diese Gemälde an. Ich weiß nicht, was dieses dreifache Ding zeigt, aber das andere erkennst du genauso schnell wie ich.« Sie waren beide bei diesem Ereignis dabeigewesen.
»Bonwhin, würde ich sagen«, meinte Egwene nachdenklich. »Du hast niemals beim Unterricht richtig zugehört. Das ist ein Triptychon.«
»Was auch immer, das andere ist das Wichtigere.« Sie hatte den Gelben jedenfalls genug abgelauscht. Alles andere war oft genug nutzloser Unsinn. »Mir scheint, die Frau, die dies aufhängen ließ, möchte sich ständig daran erinnern, wie gefährlich Rand ist. Falls sich Siuan Sanche aus irgendeinem Grund gegen Rand gestellt hat … Egwene, das könnte sich als viel schlimmer erweisen, als lediglich Elayne in die Burg zurückzuholen.«
»Vielleicht«, sagte Egwene unentschlossen. »Möglicherweise verraten uns die Papiere mehr. Du suchst hier drinnen. Wenn ich mit Leanes Schreibtisch fertig bin, helfe ich dir.«
Nynaeve blickte ungehalten hinter Egwene her, als die den Raum verließ. Du suchst hier drinnen – pah! Egwene hatte kein Recht, sie herumzukommandieren. Eigentlich sollte sie ihr sofort hinterhermarschieren und sie kräftig zurechtstoßen. Warum stehst du dann noch hier wie angewurzelt?, fragte sie sich ärgerlich. Die Papiere durchzusehen war eine gute Idee, und ob sie das hier drinnen erledigte oder draußen, kam aufs Gleiche heraus. Der Schreibtisch der Amyrlin würde vielleicht sogar wichtigere Informationen herausrücken. So knurrte sie in sich hinein, was sie
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