Das Rad der Zeit 5. Das Original: Die Feuer des Himmels (German Edition)
umgekehrt. Egwene war bereit, zuzugeben, dass es grade das sei, was ihr so besonders gefiel: die manchmal stürmischen und dann wieder sanften Wogen unsterblicher Liebe. Jedenfalls gab sie das sich selbst gegenüber zu. Es war natürlich nichts, was eine nach außen hin vernünftige Frau mit klarem Kopf öffentlich zugeben konnte.
In Wirklichkeit allerdings war ihr nicht mehr nach Lesen zumute als vorher nach Essen. Alles, was sie wirklich tun wollte, war baden und schlafen, wobei sie vermutlich sowieso auf das ersteres verzichten musste. Doch heute Nacht waren Amys und sie in Tel’aran’rhiod mit Nynaeve verabredet. Wo sich Nynaeve auf ihrem Weg nach Ghealdan auch befinden mochte, würde die Nacht erst später hereinbrechen, und so musste sie notgedrungen wach bleiben.
Bei Elayne hatte das mit der Menagerie recht aufregend geklungen, als sie ihnen beim letzten Treffen davon erzählte. Allerdings fand sie nicht, dass Galads Anwesenheit Grund genug sei für eine solch überstürzte Flucht. Ihrer Meinung nach hatten Elayne und Nynaeve einfach Geschmack am Abenteuer gefunden. Die Sache mit Siuan war zu schade, denn die beiden hätten eine feste Hand gebraucht, um sie allmählich erwachsen werden zu lassen. Seltsam, so über Nynaeve zu denken. Früher war gerade sie immer diejenige mit der festen Hand gewesen. Doch seit jenem Zusammentreffen in Tel’aran’rhiod war Nynaeve für sie nicht mehr diejenige, gegen die sie sich durchsetzen musste.
Schuldbewusst erkannte sie beim Umblättern, dass sie sich auf das Treffen mit Nynaeve diese Nacht freute. Nicht nur, weil Nynaeve eine Freundin war, sondern vor allem, weil sie erleben wollte, ob sich Nynaeves Haltung ihr gegenüber bestätigen werde. Falls Nynaeve wieder an ihrem Zopf riss, würde sie ihr einen kühlen Blick zuwerfen und eine Augenbraue hochziehen und … Licht, ich hoffe nur, dass es anhält. Wenn sie irgendetwas über meinen heimliches Ausflug ausplaudert, werden mir Amys, Bair und Melaine abwechselnd die Haut abziehen, falls sie mich nicht einfach hinauswerfen.
Immer wieder fielen ihr beim Lesen die Augen zu. So hatte sie den Eindruck verschwommener Träume, wenn sie an diese Geschichten dachte. Sie konnte genauso stark sein wie all diese Frauen, genauso stark und tapfer wie Dunsinin oder Nerein oder Melisinde oder sogar Birgitte, so stark wie Aviendha. Würde Nynaeve genug Vernunft besitzen, um vor Amys heute Nacht den Mund zu halten? Der vage Gedanke schlich sich ein, dass sie Nynaeve am Nacken packen und durchschütteln werde. Wie dumm. Nynaeve war um Jahre älter als sie. Die Augenbraue kühl und überheblich hochziehen, ha! Dunsinin. Birgitte. Genauso hart und stark wie eine Tochter des Speers.
Ihr Kopf sank vornüber auf das geöffnete Buch, und sie bemühte sich noch, den kleinen Band unter ihrer Wange zu bergen, während ihr Atem immer ruhiger und gleichmäßiger wurde und sie schließlich einschlummerte.
Sie zuckte überrascht zusammen, als sie sich plötzlich unter den großen Sandsteinsäulen im Herzen des Steins wiederfand, im eigenartigen Lichtschein Tel’aran’rhiods , und dann wurde sie noch einmal überrascht, denn sie trug den Cadin’sor . Amys würde es nicht gefallen, sie so gekleidet zu sehen; nein, es würde sie gewiss nicht amüsieren. Schnell bemühte sie sich um neue Kleidung und wurde erneut überrascht, denn ihre Gewänder flimmerten und änderten sich ständig. Einmal trug sie die Algodebluse und den bauschigen Wollrock der Weisen Frauen und dann wieder ein zartes Gewand aus blauer Seide mit Brokatstreifen. Schließlich blieb dann die Aielkleidung einschließlich ihres elfenbeinernen Flammen-Armreifs und ihrer aus Gold und Elfenbein gefertigten Halskette. Solche gedankliche Unentschlossenheit hatte sie schon lange nicht mehr an den Tag gelegt.
Einen Augenblick lang dachte sie daran, die Welt der Träume wieder zu verlassen, doch sie vermutete, dass sie wohl in ihrem Zelt fest eingeschlafen war. Höchstwahrscheinlich würde sie lediglich in einen ihrer eigenen Träume hineingleiten und da war sie sich der Traumnatur nicht immer bewusst. Doch in einem solchen Fall konnte sie nicht mehr nach Tel’aran’rhiod zurückkehren. Sie würde bestimmt Amys nicht mit Nynaeve allein lassen. Wer wusste schon, was Nynaeve dann alles ausplauderte, falls Amys sie herausforderte? Wenn die Weise Frau eintraf, würde sie einfach behaupten, sie sei ebenfalls gerade angekommen. Die Weisen Frauen waren bisher immer ein wenig schneller als sie
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