Das Rad der Zeit 6. Das Original: Herr des Chaos (German Edition)
aussehender Mann. Aber dieses Gesicht kam ihr … gewöhnlich vor. Sie versuchte, sich zu bewegen, konnte es aber nicht, jedenfalls nicht nennenswert. Ihr Rücken berührte eine der Säulen, und ihre Handgelenke wurden von Ketten hoch über ihrem Kopf festgehalten.
Das musste Gawyns Traum sein. Unter all diesen ungezählten Lichtpunkten hatte sie ausgerechnet bei seinem Traum haltgemacht. Und war irgendwie hineingezogen worden. Wie – diese Frage musste sie sich für später aufheben. Jetzt wollte sie vor allem wissen, wieso er davon träumte, sie gefangen zu halten. Energisch hielt sie sich an die Wahrheit, die in ihrem Gehirn schlummerte. Dies war ein Traum, der Traum eines anderen Menschen. Sie war immer noch sie selbst und nicht, was er in ihr sehen wollte. Nichts hier konnte ihr wahres Ich berühren. Diese Wahrheiten wiederholte sie wie ein Gebet in ihrem Kopf. Das machte es ihr wohl schwer, an etwas anderes zu denken, aber solange sie daran mit aller Macht festhielt, konnte sie es riskieren, hier zu verweilen. Wenigstens so lange, bis sie herausfand, welche eigenartigen Zwangsvorstellungen diesem Mann im Kopf herumspukten. Sie gefangen zu halten!
Mit einem Mal erblühte eine mächtige Flammenfontäne über den Fliesen, und beißender, gelber Qualm stieg empor. Rand trat aus diesem Inferno heraus, ganz in goldbesticktes Rot gekleidet, wie es einem König gebührte. Er stand Gawyn gegenüber, und Feuer und Qualm verblichen. Nur sah er kaum wie der echte Rand aus. Der wirkliche Rand war etwa genauso groß und breit wie Gawyn, während dieses Traumbild Gawyn um einen Kopf überragte. Das Gesicht erinnerte nur vage an Rand, war gröber und härter, als es sein sollte, das kalte Gesicht eines Mörders. Dieser Mann verzog höhnisch den Mund. »Du wirst sie nicht bekommen«, stieß er hervor.
»Du wirst sie nicht behalten«, erwiderte Gawyn ruhig, und plötzlich hielten beide Männer Schwerter in den Händen.
Egwene starrte die Szene mit aufgerissenen Augen an. Nicht Gawyn war es, der sie gefangen hielt. Er träumte davon, sie zu befreien! Aus Rands Gefangenschaft! Es war Zeit, diesen Wahnsinn hinter sich zu lassen. Sie konzentrierte sich darauf, draußen zu sein und dies von außen her zu betrachten. Nichts geschah.
Die Schwerter klirrten aufeinander, und die beiden Männer tanzten einen tödlichen Tanz. Tödlich jedenfalls, wäre es nicht ein Traum gewesen. Es war alles Unsinn. Ausgerechnet von einem Duell mit Schwertern zu träumen. Und es war kein Albtraum; alles wirkte echt vielleicht ein wenig verschwommen, aber keineswegs verfärbt. »Die Träume eines Mannes stellen ein Labyrinth dar, das auch er selbst nicht kennt«, hatte Bair ihr einmal gesagt.
Egwene schloss die Augen und konzentrierte sich ganz stark. Draußen. Sie befand sich draußen und blickte hinein. Kein Platz für etwas anderes in ihrem Geist. Draußen, und hineinblicken. Draußen, hineinblicken. Draußen!
Sie öffnete erneut die Augen. Der Kampf strebte seinem Höhepunkt zu. Gawyns Klinge fuhr tief in Rands Brust, und als Rand zusammenbrach, glitt die Klinge wieder heraus und vollführte einen schimmernden Halbkreis. Rands Kopf purzelte über den Fußboden beinahe vor ihre Füße. Er blieb liegen, sodass seine Augen zu ihr aufblickten. Ein Schrei stieg bis in ihre Kehle auf, ein Schrei, den sie nicht unterdrücken konnte. Ein Traum. Lediglich ein Traum. Doch diese starren, toten Augen erschienen sehr real.
Dann stand Gawyn vor ihr, und sein Schwert steckte wieder in der Scheide. Rands Kopf und Körper waren verschwunden. Gawyn fasste nach den Handschellen, die sie festhielten, und dann waren auch diese nicht mehr vorhanden.
»Ich wusste, du würdest kommen«, hauchte sie und fuhr dabei zusammen. Sie war sie selbst! Sie konnte dem Traum nicht nachgeben, nicht einen Augenblick lang, sonst säße sie wirklich und wahrhaftig in der Falle.
Lächelnd nahm Gawyn sie auf seine Arme. »Ich bin froh, dass du es gewusst hast«, sagte er. »Ich wäre früher gekommen, aber es war mir nicht möglich. Ich hätte dich niemals so lange in dieser Gefahr zurücklassen sollen. Kannst du mir verzeihen?«
»Ich kann dir alles verzeihen.« Es gab jetzt zwei Egwenes. Eine schmiegte sich zufrieden in Gawyns Arme, während er sie durch den Korridor eines Palastes trug, dessen Wände mit bunten Wandbehängen und großen Spiegeln mit herrlich verzierten Goldrahmen geschmückt waren. Die andere ritt im Kopf der ersten mit und beobachtete.
Das wurde langsam ernst.
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