Das Rad der Zeit 6. Das Original: Herr des Chaos (German Edition)
Ihr wisst«, drohte Elayne mit gedämpfter Stimme, »oder ich werde Euch das nächste Mal, wenn wir allein sind, das Geradestehen beibringen. Hinterher könnt Ihr meinetwegen wimmernd zu Sheriam rennen.« Siuan zog die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, und plötzlich jaulte Elayne auf und presste eine Hand gegen ihre Hüfte.
Siuan zog die Hand zurück, mit der sie zugekniffen hatte, ohne auch nur zu versuchen, die Geste zu vertuschen. »Ich reagiere ziemlich sauer auf Drohungen, Mädchen. Ihr wisst genauso wie ich, was Elaida gesagt hat, denn Ihr habt die Botschaft vor jeder hier Anwesenden bereits gesehen.«
»Kommt zurück; alles sei Euch vergeben?«, fragte Nynaeve ungläubig.
»So in etwa. Zusammen mit viel Geschwätz darüber, dass die Burg wieder eine Einheit werden muss, jetzt mehr denn je, und dazu einigen aalglatten Formulierungen, dass niemand sich fürchten müsse ›außer jenen, die sich in die Fänge wahrer Rebellion begeben hätten‹. Das Licht mag wissen, was das bedeuten soll. Ich weiß es nicht.«
»Warum halten sie das geheim?«, wollte Elayne wissen. »Sie können doch wohl nicht glauben, jemand würde sich freiwillig zu Elaida zurückbegeben. Sie brauchen doch nur Logain vorführen.« Siuan sagte nichts und beobachtete die wartenden Behüter mit finsterem Blick.
»Ich verstehe immer noch nicht, warum sie um mehr Zeit bitten«, knurrte Nynaeve. »Sie wissen doch, was sie zu tun haben.« Siuan schwieg weiter, aber Nynaeve zog plötzlich die Augenbrauen hoch. »Ihr habt ihre Antwort nicht gekannt!«
»Jetzt kenne ich sie.« Siuan sprach das abgehackt und hart aus, und dann murmelte sie etwas vor sich hin, was nach ›verdammte Feiglinge‹ klang. Elayne stimmte ihr insgeheim zu.
Plötzlich öffnete sich die Eingangstür der ehemaligen Schenke. Ein halbes Dutzend Sitzende mit ihren Fransenstolen kamen heraus, eine aus jeder anwesenden Ajah, und dann Tarna, gefolgt von den übrigen. Falls die wartende Menge irgendeine Art von Zeremonie erwartet hatte, wurde sie herb enttäuscht. Tarna kletterte in den Sattel, musterte noch einmal gemächlich die Gruppe der Sitzenden, warf der Menschenmenge einen Blick mit undurchschaubarer Miene zu und spornte sodann ihren Wallach an, im Schritt zwischen den Menschen hindurchzugehen. Die Eskorte von Behütern, die einen Kreis um sie gebildet hatte, bewegte sich im gleichen Schritt voran. Während die Zuschauer vor ihnen zurücktraten, erhob sich ein besorgtes Gemurmel oder Gesumme, wie in ihrer Ruhe gestörter Bienen.
Das Gemurmel hielt an, bis Tarna außer Sicht war und das Dorf verlassen hatte. Dann erst kletterte Romanda auf den Karren und rückte mit einer geschmeidigen Bewegung ihre mit gelben Fransen versehene Stola zurecht. Totenstille breitete sich aus. Es war Tradition, dass die älteste der Sitzenden Beschlüsse des Saals öffentlich verkündete. Natürlich bewegte sich Romanda keineswegs wie eine alte Frau, und ihr Gesicht zeigte wie bei all den anderen keine Alterserscheinungen. Doch wenn eine Aes Sedai ein höheres Alter erreicht hatte, sah man das gewöhnlich an den grauen Strähnen in ihrem Haar, und der Dutt an Romandas Hinterkopf war hellgrau und zeigte bereits nicht mehr die Spur einer dunkleren Farbe. Elayne fragte sich, wie alt sie sei, aber eine Aes Sedai nach ihrem Alter zu fragen, war wohl die größte Unhöflichkeit, die man sich vorstellen konnte.
Romanda verwob einfache Stränge aus Luft so, dass ihre hohe Sopranstimme überall gut hörbar war. Elayne hörte sie, als stünde ihr die Frau direkt gegenüber. »Viele von Euch haben sich in den letzten Tagen Sorgen gemacht, allerdings ganz unnötig. Wäre Tarna Sedai nicht zu uns gekommen, hätten wir von uns aus Botschaften an die Weiße Burg gesandt. Schließlich kann man kaum behaupten, wir versteckten uns hier.« Sie hielt inne, als wolle sie der Menge Gelegenheit zu lachen geben, doch sie blickten sie lediglich schweigend an, und so rückte sie erneut ihre Stola zurecht. »Am Zweck unserer Anwesenheit hat sich nichts geändert. Wir suchen nach der Wahrheit und nach Gerechtigkeit, um vollbringen zu können, was Rechtens ist und …«
»Rechtens für wen?«, murmelte Nynaeve dazwischen.
»… und wir werden weder zaudern noch versagen. Erfüllt die Euch anvertrauten Aufgaben in der Gewissheit, dass Ihr unter unseren Händen geborgen seid, jetzt, ebenso wie nach unserer sicheren Rückkehr an die uns zustehenden Plätze in der Weißen Burg. Das Licht erleuchte Euch alle. Das
Weitere Kostenlose Bücher