Das Rad der Zeit 6. Das Original: Herr des Chaos (German Edition)
vorstellbar war, wenn man die Gründe nicht kannte, und doch war der Gedanke, dass es vielleicht zu mehr kommen könnte … Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe, die Burg zu heilen, sie ohne Blutvergießen wieder zusammenzufügen.
Ein Stück weiter die Straße hinab verteilte eine schwitzende Vortor-Frau, die man vielleicht als hübsch bezeichnet hätte, wenn ihr Gesicht sauberer gewesen wäre, aus einem Bauchladen neben Bändern und Nadeln auch Gerüchte. Sie trug ein blaues Seidenkleid, dessen Rock mit roten Schlitzen versehen und das für eine größere Frau gedacht war. Der stark zerschlissene Saum gab ihre plumpen Schuhe frei, und Löcher in Ärmeln und Leibchen ließen erkennen, wo eine Stickerei entfernt worden war. »Ich sage Euch etwas«, redete sie auf die Frauen ein, die in ihrem Bauchladen stöberten. »In der Stadt wurden Trollocs gesehen, ja, dieses Grün wird gut zu Euren Augen passen. Hunderte von Trollocs und …«
Egwene hielt kaum inne. Wenn auch nur ein Trolloc irgendwo in der Stadt aufgetaucht wäre, hätten die Aiel es gewusst, lange bevor es Straßentratsch geworden wäre. Sie wünschte, die Weisen Frauen würden tratschen. Nun, manchmal taten sie es, aber nur über andere Aiel. Für die Aiel war nichts über die Feuchtländer allzu fesselnd. Dadurch, dass Egwene in Elaidas Studierzimmer in Tel’aran’rhiod ein und aus gehen und die Briefe der Frau lesen durfte, war sie es jedoch gewohnt zu wissen, was in der Welt geschah.
Egwene erkannte jäh, dass sie ihre Umgebung und die Gesichter der Menschen auf andere Art betrachtete. In Cairhien befanden sich genauso zweifelsfrei, wie sie schwitzte, Augen-und-Ohren der Aes Sedai. Elaida erhielt täglich durch Brieftauben einen Bericht – wenn nicht mehr – aus Cairhien. Burgspione, Ajahspione, Spione für einzelne Aes Sedai. Sie waren überall, häufig dort, wo man sie am wenigsten erwartete und häufig auch jemand, den man am wenigsten erwartete. Warum standen diese Akrobaten einfach nur da? Ruhten sie sich aus oder beobachteten sie sie? Plötzlich bewegten sie sich wieder, indem einer von ihnen auf den Schultern eines anderen einen Handstand vollführte.
Ein Spion für die Gelben Ajah hatte einmal auf einen von Elaida ausgegebenen Befehl hin versucht, Elayne und Nynaeve zu fesseln und nach Tar Valon zu verschleppen. Egwene wusste nicht genau, ob Elaida sie auch wollte, aber etwas anderes anzunehmen, wäre töricht. Egwene konnte nicht glauben, dass Elaida jemandem vergab, der eng mit der Frau zusammengearbeitet hatte, die sie abgesetzt hatte.
Was das betraf, hatten wahrscheinlich auch die Aes Sedai von Salidar hier Augen-und-Ohren. Sollten sie jemals von ›Egwene Sedai der Grünen Ajah‹ erfahren … Jedermann konnte es sein. Diese hagere Frau an der Ladentür, die anscheinend einen Ballen dunkelgrauen Stoff betrachtete, oder die schlampige Frau, die sich neben dem Eingang der Schenke rekelte und sich mit der Schürze Luft zufächelte, oder dieser dicke Bursche mit seinem Handkarren voller Pasteten – warum sah er sie so seltsam an? Fast wäre sie zum nächstgelegenen Stadttor gerannt.
Es war tatsächlich der dicke Bursche, der sie aufhielt, oder besser gesagt, die Art, wie er die Pasteten plötzlich mit seinen Händen zu verdecken versuchte. Er sah sie an, weil sie ihn angesehen hatte. Er befürchtete wahrscheinlich, dass eine Aiel›wilde‹ ihm einen Teil seiner Pasteten nehmen würde, ohne zu bezahlen.
Egwene lachte leise. Aiel. Sogar Leute, die ihr ins Gesicht sahen, vermuteten, dass sie eine Aiel war. Ein Burgspion, der sie suchte, würde achtlos an ihr vorübergehen. Da sie sich jetzt erheblich besser fühlte, schlenderte sie weiterhin ziellos durch die Straßen und belauschte, was immer sie konnte.
Egwene hatte sich daran gewöhnt, Dinge schon Wochen oder sogar Tage, nachdem sie geschehen waren, zu wissen und auch sicher zu wissen, dass sie geschehen waren. Ein Gerücht mochte hundert Meilen an einem Tag oder in einem Monat bewältigen und gebar jeden Tag zehn Töchter. Heute erfuhr sie, dass Siuan hingerichtet worden war, weil sie die Schwarze Ajah aufgedeckt hatte, dass Siuan eine Schwarze Ajah sei und noch lebe und dass die Schwarze Ajah jene Aes Sedai, die keine Schwarzen von der Burg seien, vertrieben habe. Es waren keine neuen Gerüchte, sondern lediglich Abwandlungen eines alten. Ein neues Gerücht das sich wie Feuer auf einer Sommerwiese ausbreitete, besagte, dass die Burg hinter all den falschen Drachen stecke. Das
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